Mantas im nächtlichen Pazifik. Und wir mittendrin. |
»Nur wenn du mir unterschreibst, dass du es auf eigene Gefahr machst!« Mike, der Tauchführer, knallt ein Blatt Papier auf die Glaspatte seines Kassentisches.
Anja, seine Frau, lächelt ihn an: »Danke, Schatz. Das ist schon okay. Die beiden kommen aus Deutschland.«
Mike schaut seine Frau an und grinst ebenfalls. »Da muss ja ein Nest sein.« Dann knallt er noch einen Stift hinterher.
»Danke!«, meint Herrchen. »Wir nehmen die Tour gleich heute Abend.«
Viele Tauchsport-Organisationen, zum Beispiel Scuba Travel, zählen das Nachttauchen zu den Mantarochen vor der Küste von Kona, Big Island, Hawaii zu den zehn besten Tauchgängen der Welt. Den Whirlpool von Claudia Schiffer natürlich nicht mitgerechnet. Dumm nur, dass Herrchen diese Attraktion unbedingt nach seinen eigenen Vorstellungen abändern muss.
Davon konnten wir Mike nur überzeugen, weil seine Frau Anja zufällig – wie Kirsten und Herrchen – aus Hamburg kommt. Vielleicht wirkte sich auch günstig aus, dass die beiden ihr Tauchgeschäft gerade erst vor einem Monat eröffnet haben.
Herrchen unterschreibt.
Mike schüttelt den Kopf und meint, dass Herrchen ja schon ein wenig verrückt sei.
»Gibt’s da Haie?«, fragt Kirsten.
»Nein«, meint Herrchen.
»Vielleicht«, meint Mike.
Anja beschwichtigt: »Wir haben dort noch nie welche gesehen.«
Mike habt kurz die Schultern: »Heute Abend dann. Und zahlt bitte im Voraus.«
Als Kirsten und Herrchen aus dem Divecenter zum Parkplatz schlendern, fällt mir ein Werbeplakat vor einem der benachbarten Läden auf: ›Your Shark Fishing Adventure‹ steht da drauf. Herrchen ignoriert es geflissentlich und lenkt Kirstens Blick in eine andere Richtung.
Nach einem Bummel durch Kona finden wir uns eine Stunde vor Sonnenuntergang wieder bei Mike und Anja ein. Diesmal sind wir nicht alleine hier; die restlichen Mitgliedern unserer Tauchgruppe für heute Abend sind auch schon da: Sechs Taucher werden für etwa eine Stunde zu den Mantas hinabtauchen. Zwei Schnorchlerinnen (eine davon ist Kirsten) werden die Mantas von oben bewundern. Und Herrchen. Der macht erst mal keines von beidem. Aber dazu später.
Bei Mike am Tresen stehen zwei Studentinnen in verwegen farbfrohen Designerröcken, verwegen Kopftüchern und verwegen bauchfreien Tops. Ihre frisch pedikürte Füße zieren Manolo-Blahnik-Jesuslatschen. Dass sie über ihren Kopftüchern grüne Baseball-Mützen tragen, auf denen in gelber Schrift UVM steht, ist ein interessanter geschmacklicher Akzent.
Mikes »Where’re you from?« beantworten sie mit »Vermont.« Sie strahlen mit Zähnen, die genauso professionell gepflegt wirken wie ihre Oberweiten. Man könnte meinen, die zwei Edel-Hippies wären hergetrampt. An Bord einer Millionärsyacht aus San Francisco.
Sie wollen den Tauchausflug mit der Goldversion einer exklusiven Kreditkarte bezahlen. Da muss Mike leider passen. Das macht nichts, denn die beiden haben auch bündelweise Cash. Nett. Hippies mit Blutgruppe blau, Krösus positiv.
Kirsten, Herrchen und alle anderen Gruppenmitglieder ziehen sich der Reihe nach um. Als Schweinehund bin ich ja kein ausgewiesener Experte in Stilfragen, aber enges, schwarzes Neopren über knappen Badeanzügen ist in meinen Augen eigentlich immer salonfähig.
Als die zwei Flower-Powerfrauen zusammen in eine Umkleide verschwinden, erregt das Mikes Missfallen. »Hey Girls!«, ruft er. »Wir haben mehrere Umkleiden.« Oh. Zum Glück haben Kirsten und Herrchen nicht eine Umkleide zusammen benutzt. Ist wohl in den USA nicht gerade angesagt, so was.
Die beiden scheint das aber nicht zu stören. Sie lachen: »Wir machen alles gemeinsam. Einfach alles, weißt du?«
Oh. Aha. Alles. Mein Interesse ist geweckt.
Ob die beiden wohl blumige Taucheranzüge tragen? Nein, tun sie nicht, wie sich bald herausstellt. Aber sie haben sich ihre Kopftücher nun in Tribal-Höhe um die Oberarme geknotet. So gehen sie auf die Gruppe von Tauchern zu, die damit beschäftigt sind, ihre Lungenautomaten und Tauch-Jackets an die Pressluftflaschen zu flanschen. »Hi, wir sind Jen und Rita«, stellen sich die beiden vor. Sie werden freundlich begrüßt. Insbesondere von den Männern.
Auch von einem Hawaiianer mit tiefschwarzen Haaren und einem breiten Grinsen. »Hi, ich bin Keanu, euer Kapitän!«, strahlt er. Die Männer redet er alle mit Dude an. Die Frauen mit Darling.
»Wie er dich wohl nennen würde?«, fragt mich Herrchen. »Dumpling?«
»Falls wir es jemals wieder ins Boot schaffen, nennt er dich jedenfalls Dumpfback’«, grolle ich.
»Du bist der Schwimmer, oder?«¸fragt Keanu Herrchen.
»Yes.«
»Ist ziemlich dämlich, auf den Tauchgang mit den Mantas zu verzichten. Du verpasst was.«
»Vielleicht bin ich ja rechtzeitig zurück.«
»Hier«, sagt Keanu und reicht Herrchen eine große Tauchlampe mit Griff. »Die ist für dich. So machst du sie an.« Die Lampe strahlt sehr hell. »Wenn du sie aus und gleich wieder an machst, gehst du durch die Leuchtstufen.« Keanu macht es vor: Die Lampe scheint weniger hell, noch weniger, dann blinkt sie hektisch, dann morst sie SOS. »Wenn du zwanzig Minuten unterwegs bist, leuchtest du damit zum Schiff zurück. Ich antworte mit dem gleichen Lichtsignal. So wissen wir, dass alles in Ordnung ist.«
Ich frage: »Und was machen wir, falls nicht alles in Ordnung ist?«
Aber niemand hört auf mich. »Okay, gut«, sagt Herrchen. »Und dann kehre ich ja auch schon wieder um.«
Keanu nickt.
Und das ist auch schon der ganze Plan: Während die anderen sich mit den Mantas vergnügen, will Herrchen auf sich allein gestellt zwanzig Minuten auf den nächtlichen Ozean hinaus schwimmen. Bei seinem moderaten Schwimmtempo dürfte er dann um und bei eine Außenalsterbreite, also einen Kilometer, vom Schiff entfernt sein. Dann will er umkehren und nach diesem netten kleinen Workout noch ein wenig mit den Mantas schnorcheln, bevor die ganze Gruppe wieder zurückkehrt. Das ist, wie gesagt, der Plan. Das einzig Sichere an Plänen ist, dass sie nicht wie geplant ablaufen…
Aber erst heißt es: Auslaufen. Alle begeben sich zu Mikes Boot. Das ist weiß und um die zwölf Meter lang. Etwa in der Mitte thront die Kapitänsbrücke mit allerlei Antennenaufbauten. Die Passagiere sitzen mit Mike und Anja achtern auf einer Art Ladefläche, die ein wenig an einen Pickup-Truck erinnert.
Mike hat nicht wie sonst üblich eine kleine US-Flagge am Heck gehisst, sondern ein stolzes Oversize-Exemplar rechts vom Führerhaus. So flattert sie beim Fahren fast über seinem Kopf.
Die Sonne ist noch nicht untergegangen, als wir den kleinen Hafen Honokohau nördlich von Kona verlassen. Diese kleine Marina liegt an der Grenze des Kaloko Honokohau National Historic Parks, einer im Vergleich zu den aktiven Vulkanen, der blühenden Unterwasserwelt und der Sternenhimmels über dem Mauna Kea weniger spektakulären Attraktion von Big Island.
Es ist sehr warm, über dreißig Grad.
Nur wenige Wolken ziehen über den dunkelblauen Himmel. Trotzdem sieht das Wasser grau aus. Ein kaum spürbarer Wind kräuselt ganz leicht die Meeresoberfläche. Die Wassertemperatur soll bei 25 Grad Celsius liegen.
Jen und Rita lachen viel. Dabei spielen sie mit ihren Zeigefingern in ihren Haaren. Beide tragen brünette, schulterlange Strähnenfrisuren.
»Ich muss mal Pipi!«, ruft Rita plötzlich.
»Was, jetzt?!«, fragt Mike.
»Spätestens.«
»K., drossle den Motor, Pipi-Pause!«, ruft Mike seinem Kapitän zu.
Die meisten Taucher an Bord sind mit dem Toilettengang während einer Bootsfahrt vertraut. Auch mit seinem Kernproblem: Es gibt kein Klo an Bord. Anstand und Sitte erfordern in dieser Situation, dass sich der Blasenschwächling auf die kleine Tauchplattform am Heck des Bootes zurückzieht und sich dort geflissentlich in die Geräuschkulisse der Bilgepumpe integriert. Die anderen Passagiere konzentrieren sich indes auf die bugseits vorhandenen Attraktionen. Und wenn’s nur graues Wasser ist.
Jen begleitet ihre Freundin nach hinten. Stimmt, sie machen ja alles zusammen. Alles.
Kirsten und Herrchen quatschen ein wenig mit ihren Sitznachbarn, einem Paar Amerikaner. Er ist um die Fünfzig, hat buschige Koteletten und trägt seine grauen, langen Haare zu einem Zopf gebunden. Sie ist wenigstens zehn Jahre jünger, platinblond und hat sympathisch viele Lachfältchen. Beide sind vorhin vor dem Divecenter mit einer bulligen Harley vorgefahren.
Doug, so heißt der Mann, erzählt, dass sie zur Feier ihres zwanzigsten Hochzeitstages hier seien. Renée, seine Frau ergänzt, dass sie gerade heute in Kona ihr Hochzeitsgelübde erneuert hätten. Dazu nimmt sie seine Hand und schenkt ihm ein ansteckendes Strahlen.
Schön für Renée und Doug, aber ich schaue lieber heimlich zu, was achtern passiert. Dort hockt Jen so vor Rita, dass sie die meiste Sicht auf ihre Freundin nimmt. Aber irgendetwas sieht daran merkwürdig aus.
Renée meint überschwänglich: »Und wie kann man einen solchen Tag besser feiern als mit einem einmaligen Tauchgang!«
Kirsten pflichtet ihr bei und die beiden vertiefen sich in ein Gespräch über weltweite Tourismusattraktionen.
Rita hat ihr Kopftuch, das sie sich um den Oberarm gebunden hatte, abgenommen und eher nachlässig über ihrem Schoß ausgebreitet. So viel kann ich erkennen. Was soll das? Will sie damit die Sicht nehmen? Aber warum hat sie dann ihren Neoprenanzug noch vollständig an?
Doug erzählt etwas von ›Offshore-Tauchen‹. Wow. Sieht gar nicht so aus wie ein knallharter Kerl, der in bis zu 400 Metern Meerestiefe für 1.500 Euro am Tag Lecks in Pipelines verschweißt.
Herrchen fragt, was denn bei so einer Risikotätigkeit die größten Herausforderungen seien. »Die enormen Kräfte, die auf den Körper einwirken? Die psychischen Belastungen? In riskanten Situationen Konzentration und mentale Stärke zu bewahren?«
Doug stutzt einen Moment und zwinkert.
Ich nutze die Pause für einen Blick Richtung Heck. Wenn das mit Rita und dem Tuch schon merkwürdig war, so passiert nun etwas, das geradezu bizarr ist: Sie fummelt etwas aus ihrem Kopftuch, das aussieht wie ein Teststreifen. Den steckt sie sich in den Mund. Was soll das? Ist das ein Schwangerschaftstest? Aber oral? Denkt sie vielleicht, sie wäre schwanger, weil sie…
»Äh… schon, ja«, meint Doug da. »Bei Seeigeln muss man doch ein wenig aufpassen. Wenn man ins Wasser krabbelt. Und wenn eine größere Welle kommt, kann man schon mal umkippen.«
»Wie das?«, fragt Herrchen. »Du meinst, wenn der Versorgungsschlauch zu den Druckbehältern an Deck mit dem Mutterschiff empor gerissen wird?«
Diese Episode aus der Serie ›Dialoge des Grauens‹ ist erst vorbei, als das Missverständnis aufgeklärt wird: Doug versteht unter Offshore-Tauchen, wenn ein Hobbytaucher sich nicht von einem Boot nach draußen fahren lässt, sondern einfach vom Strand aus ins Wasser patscht. Oder eben krabbelt, weil die Druckluftflaschen so schwer sind.
»Was sollte das eben?«, frage ich Herrchen, als Rita und Jen sich wieder zu den anderen setzen und das Boot wieder Fahrt aufnimmt.
Herrchen zuckt die Schultern. »Ist das wichtig?«
Die Fahrt dauert nicht mehr lang. Nach etwa zwanzig Minuten haben wir unser Ziel, Ho’ona Bay oder auch ›Garden Eel Cove‹, schon erreicht. Die heißt so wegen der vielen Röhrenaale, die hier im Sandgrund leben.
»In 98 Prozent aller Fälle sehen wir hier Mantas«, erklärt Mike der Gruppe. »Zwei bis drei sind okay. Wenn wir noch mehr sehen, haben wir Glück.«
Wir sind nicht weit entfernt vom Ufer, vielleicht 200 Meter. Besonders attraktiv ist der Strand hier nicht: Kaum mehr als eine grauschwarze Abbruchkante, um die drei Meter hoch, fällt ins Wasser ab. Dahinter breitet sich flaches, grauschwarzes Land aus mit wenig Vegetation, dafür einer Menge Staub. Weiter entfernt wachsen niedrige Büsche um einige flache Gebäude, die vielleicht schon zu den Ausläufern des Kona International Airports gehören, der ganz in der Nähe liegt.
Und hier soll es also einen der zehn besten Tauchgänge der Welt geben? Und die berühmten, riesigen Manta-Rochen? Ich weiß ja nicht…
»Da ist einer!«, ruft Renée aufgeregt und zeigt ins Wasser.
Himmel, tatsächlich! Aus dem grauen Wasser taucht ein riesiger, dunkler Flügel auf. Seine Spitze ist gerade so weit nach oben gerollt, dass man seine weiße Unterseite erkennen kann.
»Da, noch einer!«, ruft jemand anderes. Die ganze Gruppe von zehn Leuten ist aufgeregt.
»Das ist ein guter Tag«, meint Mike zufrieden. »Sei ihr gut drauf?«, ruft er dann.
»Ja!«, brüllen alle.
»Nein!«, schreie ich und keiner nimmt mich wahr. Dann fällt mir auf, wie Rita auf das Wasser hinaussieht. Etwas an ihrem Blick ist anders als sonst. Irgendwie… tiefer. Ich kann nicht genau sagen, was es ist. Eigentlich es sieht sogar attraktiv aus.
Wir sind nicht die einzige Tauchgruppe in dieser Bucht, noch vier andere Boote liegen hier schon vor Anker. Sie haben Namen wie Kaahele Ale oder so ähnlich.
Glutrot geht die Sonne unter. Danach wird es zunehmend dunkler.
Keanu stellt den Motor ab.
Er wirft den Anker aus.
Gleich geht’s los.
Oh nein.
Bereits der Gedanke, hier nur herum zu schnorcheln, ist furchteinflößend. Denn ringsherum sieht man Mantaflossen. Sie sind einfach überall. Und zu den sollen wir ins Wasser? Im Dunkeln? Und dann noch weiter hinausschwimmen?
Was für eine total bescheuerte Idee…
»Das sind mindestens zehn Mantas!« Mike ist begeistert. Dann gibt er noch einige Erklärungen ab. Die Schnorchler müssen sich ein Knicklicht um den Hals hängen. Unsere seien grün, die der anderen Tauchgruppen haben zum Teil andere Farben. Die Taucher bekommen jeder eine Lampe. Mike taucht vor, Anja taucht als letzte. Als Orientierung diene das Ankerseil. »Hier ist es nicht ganz zehn Meter tief. Wir bilden unten einen engen Kreis und knien uns einfach auf den Grund. Unsere Lampen halten wir in der Mitte so zusammen, dass wir einen einzigen Lichtkegel nach oben erzeugen. Das gebündelte Licht zieht bald eine Menge Krill an. Wir sitzen da unten bald in einer richtigen Krillwolke, Leute. Tja, und dann kommen die Mantas zum Fressen.« Er macht eine kurze Pause. »Also, wegen des Krills.«
Alle lachen artig.
»Außer den Mantas wird auch noch Ivy vorbeikommen. Das ist hier unsere Kamerafrau. Sie kommt reihum zu den Tauchgruppen und dreht ein Unterwasservideo. Das könnt ihr dann morgen bei uns erwerben. Ist eine tolle Sache, lohnt sich.«
Während sich alle tauchfertig machen, wird es sehr schnell dunkel. Ein Strahler über der Bordkabine spendet weißes Licht. Einige spärliche Lichter kommen vom Ufer. Meist sind es nur rote oder orangefarbene Punkte.
Flugzeuge sehen wir keine. Kona ist nicht der bedeutendste aller Flughäfen.
»Neben welchem Flughafen auf der Welt kann man sonst noch Mantas sehen?«, fragt Herrchen.
»Vor jedem deutschen Charterterminal, wenn El Arenal die Eimersaufsaison eröffnet.«
»Nicht witzig, Marvin.«
Herrchen ist schnell fertig: Die Lampe hat er schon, das Knicklicht ist schnell umgehängt und Maske und Schnorchel schnell angelegt. Eigentlich wollte er mit Flossen schwimmen. Das erhöht Geschwindigkeit und Sicherheit im Wasser. Aber das hat er zugunsten des gefühlsechten Erlebnisses wieder verworfen.
Als er die Innenseite seiner Tauchmaske mit einem Tropfen Defog behandelt, um das Beschlagen zu verhindern, starrt ihm Rita von der Seite aus dort hinein. Irgendwie – begierig. Als wolle sie den Tropfen abschlecken.
Herrchen versucht es mit einem Wortspiel: »Drop out, huh?«
Dass er damit auf das Motto der Hippie-Bewegung anspielt, ist ein soziales Vabanquespiel. Aber Rita scheint’s zu freuen. Sie ergänzt: »And turn other people on – to drugs, love, beauty, honesty, and fun.« Herrchen denkt, dafür dass die Hippie-Bewegung ursprünglich durch Henry David Thoreau inspiriert war, haben sie sich ziemlich weit von dessen Motto ›statt Liebe, Ruhm und Geld gib mir Wahrheit‹, entfernt. »Du kommst aus Deutschland, oder?«, fragt Rita dann. Ihr Blick ist ganz unwahrscheinlich… tief.
Herrchen nickt.
»Kennst du die Wandervogel?« Das letzte Wort spricht sie zwar Deutsch aus, Herrchen versteht trotzdem nicht, was sie meint. Er schüttelt den Kopf und kommt nicht von ihrem Blick los.
Bevor sich das Geheimnis der wandernden Vögel klärt, erhebt Mike die Stimme und gibt letzte Instruktionen: »Leute, hört mal her. Wir gehen gleich ins Wasser. Die Schnorchler bleiben bitte an der Oberfläche, ja? Die Taucher gehen gleich runter auf den Grund und bleiben da. Der Raum dazwischen gehört den Mantas, ist das klar? Heute sind wirklich viele Mantas im Wasser, also ist es doppelt wichtig, dass ihr euch daran haltet!«
Alle nicken, einige werfen bange Blicke ins Wasser. »Schnorchler«, fährt Mike fort, »scheint eure Lampen senkrecht nach unten. Bitte fasst die Fische nicht an. Sie können euch mit ihren Flossen treffen. Aber das tut euch nicht weh. Alles klar?«
Alle sind klar.
Es ist erschreckend schnell Nacht geworden.
Plötzlich scheint der Mond über dem Horizont.
Herrchen aktiviert sein Knicklicht durch Knicken. Da kommt Mike noch einmal zu ihm. »Hey, alles klar?«
»Und wie.«
»Die größte Gefahr sind andere Schiffe. Nutze deine Lampe, um auf dich aufmerksam zu machen.«
Herrchen nickt.
»Dir ist klar, dass ich keine Verantwortung für dich übernehmen kann?«
»Das ist vollkommen in Ordnung.«
»Wenn du in einer Stunde nicht hier bist, werden wir nicht länger auf dich warten.«
»Das Ufer ist ja nah.«
»Verrückter Kerl. Süchtig nach dem Kick, was?« Mike schüttelt lachend den Kopf, sagt: »See you« und geht als erster Taucher ins Wasser. Die anderen folgen ihm umgehend.
Kirsten schaut zweifelnd ins Wasser. Überall wabern Mantas vorbei. »Bist du sicher, dass das Spaß macht?«
»Wenn nicht, gehen wir gleich wieder ins Boot«, antwortet Herrchen.
»Ha!«, macht sie. Dann hält sie sich an die zweite Schnorchlerin und geht mit ihr über die Tauchplattform am Heck ins Wasser.
Nur noch Keanu und Herrchen sind jetzt an Bord. Herrchen blinkt den Kapitän mit seiner Lampe an.
Der blinkt zurück und grinst.
Dann setzt Herrchen seine Tauchmaske auf und bevor ich noch um Hilfe schreien kann, startet er seine Stoppuhr und springt ins Wasser.
Die nächsten Sekunden sind ein Gefühlscocktail von Urangst, Haltlosigkeit und Grauen mit einem doppelten Schuss Panik. Das Wasser: Es ist nicht sehr kalt, aber sehr dunkel. Die Mantas: Überall diese riesigen Unbekannten Flugobjekte im Wasser. Der Schnorchel: Er ist beim Sprung ins Unbekannte voll Wasser gelaufen. Die Blasen: Wir sind mitten in die Blasen der absteigenden Taucher gesprungen. Das kitzelt, außerdem behindert es zusätzlich die Sicht. Geisterlichter: Der Lichtschein der Taucher unter uns zuckt wie ein Schwarm mystischer Irrlichter im Schwarz der Tiefe. Die Lampe: Wie sollen wir mit diesem Ding vernünftig schwimmen?
»Raus hier!«, brülle ich.
Herrchen arbeitet die Störgefühle systematisch ab. Den Schnorchel bläst er, die Lampe schaltet er aus und hängt sie sich am Band über die Schulter. Einige Schwimmzüge später haben wir das Wasser zunächst für uns. Nur gegen seine Dunkelheit können wir nichts tun. »Das gehört jetzt zu uns«, meint Herrchen.
»Mach doch wenigstens die Lampe an!«, flehe ich.
»Bist du sicher? Wie würdest du dich fühlen, wenn da plötzlich ein riesiger Schatten durch den Lichtkegel huscht?«
Diese Frage ist gemein. Während ich beim Abwägen des Für und Widers zunehmend in Angststarre verfalle, tritt Herrchen ein wenig Wasser und sieht sich um.
Weniger Meter entfernt sieht er jemanden mit einem grünen Leuchtstab schnorcheln. Ist es Kirsten?
Das Wasser gluckst.
Ein großer, schwarzer Schatten huscht direkt neben uns unglaublich schnell durchs Wasser. Wir spüren eher die Strömung als dass wir ihn sehen können.
Mein Blutdruck würde jetzt jedes Messgerät überfordern. »Wir werden gefressen werden«, krächze ich.
»Ich mach’ mal diesen Leuchtköder aus«, meint Herrchen und steckt sein Knicklicht hinten in den Neopren-Shorty.
Dann dreht er sich um, weg vom Ufer, der Tauchgruppe, den Booten. Schaut zum dunklen Horizont, wo ein wenig Mondlicht über dem Wasser glitzert.
Dann krault er los.
Es ist ein Kampf der Vernunft gegen die Angst: Diese dunklen, schnellen Schatten unter und neben uns können eigentlich nichts Schlimmes sein. Mantas greifen Menschen schließlich nicht an. Aber wissen wir das genau?
Nach wenigen Minuten ist es mir zu viel. »Ich will die Lampe anmachen!« Ich fürchte, ich zittere, als ich das sage.
Herrchen hält im Kraulschlag inne. »Oh Mann, Marvin. Na gut.« Er streift die Lampe von der Schulter, hält sie am ausgestreckten Arm senkrecht nach unten und schaltet an. Dabei schaut er mit der Tauchmaske ins Wasser.
Wir thronen auf einer Säule aus Licht, umgeben von lupenreinem Schwarz. Es sieht entsetzlich aus. Und auch entsetzlich schön.
Da ist nichts, gar nicht. Nur Schwarz und Licht. Und ja, ich möchte jetzt wirklich nicht sehen, dass etwas in diesen Lichtkegel hinein schwimmt.
Das ist wie bei diesem Nachtlauf durch die heimischen Wälder. Nur eine kleine Kopflampe spendete etwas Licht direkt vor uns. Rechts und links war alles Schwarz. Man hat nur das Grunzen gehört, von der Seite. Ansonsten, wie gesagt, nur Schwarz. Da hat Herrchen die große Taschenlampe angemacht und in Richtung des Grunzens gehalten: Massenweise schwarze Wildschweinleiber, so weit der Strahl der Lampe reichte. Der Schreck sitzt mir heute noch in den Knochen. Was machen wir, wenn hier von unten plötzlich ein aufgerissener Hairachen auftaucht?
»Besser?«, fragt Herrchen.
»Nein«, wimmere ich.
Er macht die Lampe aus und hängt sie wieder um. Um uns herum ist es noch dunkler als eben; unter uns klafft ein Abgrund schierer Finsternis. Was lauert dort alles? Auf alten Seekarten bezeichneten die Entdecker unerforschtes Terrain mit There Be Monsters. Kann ich gut verstehen. Genauso sieht es hier aus.
Herrchen schaut sich um, ob irgendwelche Schiffe nahen. Weit und breit nichts zu sehen.
Ich denke: Wenn jetzt hier neben uns eine Rückenflosse durchs Wasser zieht, sterbe ich.
***
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