Dienstag

Grand Canyon: Augen blau und durch


Trail im Grand Canyon: Wir haben
die Steigungen unterschätzt
Wer durch den Grand Canyon laufen will, ist entweder dumm oder exzellent vorbereitet. Wir dachten zumindest, wir wären vorbereitet. Dieser Post ist ein Originalkapitel aus "ES läuft: Sei stark, Schweinehund"


Die Idee
Es trifft mich hinterrücks und völlig überraschend. Auslöser für närrische Torheiten sind meist Angst, falsche Freunde, Gier und dergleichen. Bei ihm, meinem Herrchen, reichte ein Krabbenbrötchen.
Und wenn jemand schon beim Anblick eines Krabbenbrötchens auf so unsinnige Gedanken kommt, ahnt man, wie es im Übrigen um seinen Geisteszustand bestellt ist.
Mir jedenfalls ist schleierhaft, wie ein so schlichtes Schnittchen jemanden zu einer dermaßen dramatischen Dummheit verleiten kann. Irgendwann wird er es mir vielleicht erklären, fürs Erste ruft er nur: »Das ist es!« und rennt zum Bücherregal in seinem Arbeitszimmer, dorthin, wo die Karten und Reiseführer stehen. Schlägt den Straßenatlas der American Automobile Association auf der Seite des Bundesstaates Arizona auf.
»Es geht, schau mal, Marvin!«, gluckst er wie ein Huhn, das gerade sein erstes Ei gelegt hat.
»Warum?«, maule ich.
»Ich muss dir etwas zeigen. Und werd’ nicht gleich bleich, das hier wird dir gefallen!«
»Bestimmt nicht«, hauche ich.
Meine Stimmungslage ist ihm wie immer völlig egal, er fährt fort: »Hier, der Südrand des Grand Canyon. So weit kommt man mit dem Auto heran. Wenn man von hier aus den Nordrand auf der anderen Seite erreichen will, muss man diesen riesigen Umweg fahren.« Sein Zeigefinger fährt auf der Karte den riesigen Umweg nach. »Aber hier!« Sein Zeigefinger stoppt am Nordrand und fährt dann einmal kurz direkt nach Süden. »Mitten hindurch ist es ein Zehntel der Strecke, nur dreißig, höchstens vierzig Kilometer.«
»Sensationell«, gebe ich zurück. »Dass vor dir noch niemand darauf gekommen ist! Klar, wir fahren einfach mitten durch. Hoffentlich kriegen wir kein Ticket, wenn wir mit Fallgeschwindigkeit von oben in den Abgrund stürzen. In den USA darf man bestimmt nur mit maximal 60 Meilen pro Stunde den Möllemann machen.«
»Marvin«, schilt er. »Das ist nicht politisch korrekt.« Als ob mich das interessieren würde. »Und wer redet von fahren?«
»Ich dachte…« Ich stocke, während das Entsetzen von mir Besitz ergreift. »Du willst da durch gehen?«, hauche ich schließlich.
Jetzt fangen seine Augen an zu funkeln. »Nicht gehen, Marvin. Wir laufen hindurch. Von Südrand zu Nordrand, in einem Rutsch. Ist das nicht toll?«
Ich schweige wie vom Donner gerührt.
»Um das zu schaffen werden wir das Training ein wenig intensivieren müssen, Marvin.«
Es ist der 24. November. Ein mehr oder weniger normaler Tag. Aber ab heute wird nichts mehr, wie es mal war.

Vorbereitungen: Training
Sechs Monate sind es, bis uns der nächste Familienurlaub am Grand Canyon vorbeiführen wird. Sechs Monate, in denen er Wege beschreitet, die ihn weitab der Grenzen von Normalität und Alltag führen. Sechs Monate, in denen ich erfolglos versuche, ihm dieses vernunftbereinigte Vorhaben auszureden.
Viel zu aufwändig wäre es, den Horror dieser Zeit in allen Facetten wiederzugeben. Drei Fallbeispiele reichen völlig aus um meine Verzweiflung zu verstehen.
Fallbeispiel Eins: Training.
Weil wir in Hamburg wohnen, laufen wir viel an der Alster, häufig nach Feierabend vom Büro aus, wo wir uns duschen und umziehen können. Und irgendwann laufen wir dort unsere erste, fünfte Alsterrunde. Selbstverständlich, nachdem wir bereits vier davon intus haben. Mit Rucksack, weil wir den im Grand Canyon auch tragen werden. Eine Alsterrunde sind 7,4 Kilometer. Nach der ersten habe ich gebettelt, nach der zweiten gefleht, nach der dritten geflennt und in der vierten laut nach Mama geschrieen, aber er ist weitergelaufen, obwohl seine Geschwindigkeit (und auch sein Laufstil) mittlerweile so heruntergekommen ist, als schlurfe er durch ein Bällebad aus Bowlingkugeln.
Es ist ein sonniger Abend und viele Leute sind an der Alster unterwegs. Wir treffen zum wiederholten Male ein Pärchen, das an der Uferwiese gegrillt hat. Wir haben bereits gesehen, wie sie den Hinweg schlenderten, den Grill aufbauten und anheizten, picknickten, den Rotwein austranken, den Sonnenuntergang anschauten und jetzt treffen wir sie auf dem Rückweg. »Oh Gott, die wievielte Runde ist das denn jetzt eigentlich?«, fragen sie ihn. Er keucht: »Fünfte« und denkt, dass er sie dabei anlächelt. Aber er verzieht nur die wenigen Gesichtsmuskeln, die nicht verkrampft sind, in willkürliche Richtungen; das Ergebnis ist Furcht einflößend.
»Ahh...«, macht sie. »Ähh…«, macht er. Wie sehr ich sie um ihren abendlichen Alsterausflug beneide! Und wie sehr ich unseren Alsterausflug verabscheue!
Dass er es mit diesem Trainingslauf übertrieben hat, ahnt er schon unterwegs, merkt es aber mit voller Härte erst am Ende der fünften Runde, wo wir an einer roten Fußgängerampel anhalten müssen. Sofort verebbt der Strom der Endorphine und bislang eingelullte Schmerzen erwachen mit einem Aufschrei. Er kann nicht mehr weiterlaufen. Er kann kaum weitergehen. Etwa 800 Meter haben wir noch bis zum Büro, wo Umkleide und Dusche warten. Davon schafft er 770. Wir können das Gebäude schon sehen, aber die Beine können es nicht erreichen, der Schmerz ist zu groß. Er muss sich auf eine Stufe setzen.
In unseren Oberschenkeln feiern die freien Radikale gerade Walpurgisnacht. Ein Griff in die Steckdose würde die Muskeln jetzt wahrscheinlich merklich entspannen. Nach zehn Minuten kann er sich aufraffen. Aber schon in der Dusche tragen die Beine erneut nicht mehr und er muss sich im Sitzen abseifen. »Und wenn jetzt jemand reinkommt?«, zische ich.
Das wäre ihm egal, meint er. Aufstehen könne er jedenfalls noch nicht. Aber gleich würde es bestimmt besser werden.
Schließlich schaffen wir es bis nach Hause. Die Kinder sind schon lange im Bett, Kirsten macht eine eher spöttische Bemerkung über sein Erscheinungsbild. Das ist ihm Wurscht, er trinkt erst einmal flaschenweise Wasser, frisst alle Reste des Abendbrotes vom Tisch, dazu den Kühlschrank leer und alle Süßigkeitenvorräte auf und will sich gerade noch eine Familienpizza mit extra Käse bestellen, als eine bleierne Müdigkeit von ihm Besitz ergreift.
Beim Einschlafen merkt er, dass unser Herz schneller und lauter schlägt als sonst.
»Heute haben wir eine Grenze erreicht, Marvin«, flüstert er andächtig.
»An diese Grenze will ich nie, nie wieder.«
»Musst du auch nicht, denn wir werden sie verschieben. Wir erobern das Territorium dahinter und machen es uns untertan.«
Hilfe. »Iß bitte nie wieder Krabbenbrötchen«, krächze ich.

Vorbereitungen: Ausrüstung
Fallbeispiel Zwei: Ausrüstung.
Er ist in der Küche und beugt sich über eine kleine Waage. Darin liegt ein schwarzer Haufen Undefinierbares. Ich denke: ›Mein Gott, er will mir eine Überdosis chinesischer Wunderpilze einflössen!‹
»135 Gramm!«, ruft er entzückt.
Ich denke, das ist eine ernstzunehmende Dosis.
»Nano PY-10 Lite von Rono.«
Die Bezeichnung des Pilzes lässt mich schaudern. Und wer ist dieser Rono, etwa sein Dealer?
Er hebt den schwarzen Haufen in die Höhe und schüttelt ihn aus. Eine Hose baumelt in der Luft. Er girrt: »Winddicht und federleicht!«
Die Erleichterung darüber, dass er wohl keinen Anschlag mit psychedelischen Naturdrogen auf mich verüben will, hält sich in Grenzen. Stattdessen will er mich offensichtlich mit dieser Vorstellung ins Jenseits langweilen.
»Das, Marvin, ist genau das, was wir brauchen!«
Kirsten hat den Vorgang mit Interesse verfolgt. Ganz offensichtlich legt sie diesen Vorgang gerade in die Kartei ›Munition für tiefgehende Frauengespräche‹ ab.
Er lässt sich davon nicht entmutigen. Jeder einzige Ausrüstungsgegenstand, den er auf die Canyontour mitnimmt, muss akribische Auswahlprozesse, Referenzprüfungen und Tests über sich ergehen lassen. Die schlimmste in einer komplexen Verkettung schlimmer Erfahrungen fand dabei auf dem Slickrock-Trail in Moab, Utah, statt. Dort lief er bei ziemlicher Hitze in einem Kompressions-T-Shirt, also einer Art Thrombosestrumpf für den männlichen Oberkörper, der Marke Under Armor. Auch dieses soll kühlen, zudem verspricht das eng, sehr eng anliegende Material eine deutliche Leistungssteigerung. Außerdem soll es die muskulären Konturen so nachzeichnen, dass man quasi mit der stählernen Brust eines römischen Feldherrenpanzers unterwegs ist. Allerdings gilt dies nur bei einem Körperfettanteil von fünf Prozent und weniger, sonst zeichnen sich nämlich Konturen ab, die man gnädig mit einer Toga verhüllen sollte. Neben der Tatsache, dass das Hemd aus modischer Sicht irgendwo zwischen peinlich und katastrophal rangiert, läuft es sich bei Hitze darin so luftig wie in einer verschlossenen Tupperschüssel.
Vielleicht sollte er sich einmal eine Kompressions-Kapuze zulegen. Das könnte Hirndurchblutung und Intelligenz steigern und er würde diesen ganzen Blödsinn sofort sein lassen.
Was mich ja am allermeisten auf die Palme bringt ist, dass er jeden einzelnen Gegenstand, ob Hose oder Kompass, selbst auf der Küchenwaage nachwiegt.

Vorbereitungen: Gewicht
Und damit kommen wir zu Fallbeispiel Drei: Leichtgewichtigkeit.
»Sind sie in letzter Zeit häufig müde?«, fragt ihn seine Hausärztin.
»Nein«, antwortet er irritiert. Eigentlich wollte er sich nur durchchecken lassen, wie man es eben vor einer größeren Ausdauerleistung tun sollte.
»Blass?«
»Nein!«
»Haben sie Blut im Stuhl?«
»Nein!! Wieso fragen sie?«
Die Ärztin meint besorgt, dass eine solche Gewichtsabnahme wie in seinem Fall eher selten wäre.
»Sie meinen diese sinnlosen Schwabbelkilos? Die sind dann mal weg.«
Die Ärztin meint, es könne ja auch noch andere Gründe geben. Diplomatisch fügt sie hinzu: »Fortgeschrittenen Darmkrebs, zum Beispiel.«
Ich stichele: »Erstaunlich, was dir das Laufen für eine vitale Aura verleiht!«
Jedenfalls zeigt unsere Waage mittlerweile eine deutliche Rückentwicklung in Richtung unserer späten Teenagertage an, zumindest, was das Gewicht angeht. Könnte die Waage auch den Geisteszustand messen, würde sie entsprechende Rückschritte feststellen.
Die Hausärztin, meine letzte Hoffnung, hatte jedenfalls aus gesundheitlicher Sicht keine Bedenken gegen die Lauftour durch den Grand Canyon.

Anreise
Und so ist es dann soweit. Wir sitzen im Auto und sind nur noch eine halbe Stunde vom South Kaibab Trailhead am Südrand des Grand Canyons, dem Auftakt dieses Duetts für Machismo und Laufschuhe, entfernt. Sechs lange Monate lang habe ich versucht, ihm diesen pubertären Egotrip auszureden. Jetzt auch noch. »Du weißt doch gar nicht, auf was du dich einlässt«, dränge ich.
»Wir haben doch viel darüber gelesen.«
»Dich hat doch schon das Training völlig fertig gemacht!«
»Das stimmt wohl. Weißt du noch, wie ich nach den langen Läufen anfangs kaum Stufen hochkam und mich in der Dusche hinsetzen musste, weil ich einfach nicht mehr aufrecht stehen konnte?« Warum lächelt er dabei so beseelt?
»Und das war im Flachland. Vor uns liegen aber gewaltige Höhenunterschiede!«
»So ganz flach ist es an der Alster ja nun auch nicht. Immerhin geht es vor ein, zwei Brücken manchmal etwas bergauf. Etwa drei Meter. Können sogar fünf sein.«
»Wie kommst Du darauf, dass du diesen Lauf überhaupt überleben, geschweige denn schaffen wirst?«
»Jetzt übertreib mal nicht. Das Training war doch erfolgreich. Heute schaffe ich nach den langen Läufen schon vier Stufen. Und in der Dusche kann ich immerhin hocken.«
Ach, was war das doch für eine gute, alte Zeit, als Gewicht und Körperfettanteil noch nicht funktionelle Parameter waren, eingestellt und optimiert wie die Schneidköpfe einer CNC-Fräse. Jetzt, als wir an der Abzweigung zum South Kaibab Trailhead anhalten, ist sie weiter weg denn je.
Hier oben, auf 2.200 Höhenmetern, ist es für Ende Mai noch ziemlich kalt, nur knapp über Null Grad Celsius. Meine Stimmung ist ebenfalls nahe dem Nullpunkt. Bisher bewegten wir uns nur durch die Landschaften der Theorie, durch die Resultate unzähliger Recherchen über mögliche Laufgeschwindigkeiten, Wegverläufe, Streckenpunkte, Wasserstellen und Notfalltelefone, die er alle auf einer kleinen Marschtabelle zusammengefasst hat. Aber nun droht die Praxis.
Und dabei kann man den Canyon von hier aus noch nicht einmal sehen. Diese denkwürdige Stelle bietet nicht viel mehr als zwei Teerstraßen, ein Durchfahrt-Verboten-Schild und ein paar Kiefern.
Irgendwo hinter diesen alltäglichen Dingen ist sie, die Schlucht, unvermeidlich und jenseits aller Komfortzonen.

Abschied
Er macht einige Dehnübungen, winkt seinen drei Kindern Thilo, Julian und Linea auf dem Rücksitz zu, die das alles wenig interessiert, und gibt Kirsten einen kleinen Abschiedskuss. Über diesen harmlosen Verrichtungen steht die große Frage, ob sie sich heute am Nordrand des Canyons tatsächlich wieder sehen werden. Oder ob seine Fingerabdrücke an der staubigen Heckscheibe des gemieteten Ford Explorers, wo er sich beim Dehnen abgestützt hat, das Letzte sein werden, was K.u.K. (Kirsten und die Kinder) von ihm sehen.

Erste Schritte
Dann dreht er sich um und läuft los. Über das Rauschen des Windes hinweg hören wir, wie Kirsten den Motor anlässt und Richtung North Rim davonfährt. Wir drehen uns nicht noch einmal um.
»Und«, fragt er, »wie fühlst du dich, jetzt wo es endlich losgeht?«
»Ich finde das entsetzlich. Dämlich. Ich will zurück. Ich habe Angst. Davor, dass wir scheitern. Davor, dass du mich ignorierst.«
Er ignoriert mich und sabbelt los: »Ich finde es erstaunlich: Noch gestern Nacht war mein Kopf so voll mit diesem Lauf wie eine neapolitanische Mülltonne. Und jetzt, mit diesen ersten Schritten hier ist dieser Müll auf einmal wie weggefegt!«
»Klasse. Wir haben uns noch nicht mal warmgelaufen und du halluzinierst schon.«
»Es ist wie beim Tauchen, wenn man den Schritt vom Boot ins Wasser getan hat und ganz plötzlich von Stille und Schwerelosigkeit umgeben ist.«
»Ich fühle mich eher von Irrsinn und Irrglaube umgeben. Und wir sind noch nicht einmal eine Minute unterwegs…«
»Dieser Lauf wird nicht in Minuten oder Sekunden gemessen, sondern in Momenten. Dies ist der erste!«
Gäbe es ein Intellekt-Radar, so zeigte es in Momenten wie diesem bei ihm einen gähnend leeren Bildschirm.
Natürlich hat der Gedanke an mögliche Gefahren bei dieser geistigen Agilität einer Miesmuschel keinen Platz. Das liegt zum einen an der Tatsache, dass ihn seine Familie nicht direkt am Beginn des South Kaibab Wanderwegs aussetzen konnte, weil die letzten, wenigen hundert Meter Straße dorthin den Nationalpark-Bussen vorbehalten sind. Er läuft also gerade komfortabel auf Asphalt. Zum anderen glaubt er selbstverständlich, er wäre physisch und psychisch in Bestform und führe genügend Ausrüstung mit sich. Bis jetzt, wo er etwa 50 Meter von 34.200 und 0 Höhenmeter von 1.500 (nach unten) bzw. 1.800 (wieder nach oben) zurückgelegt hat, läuft alles nach Plan.
Der US-Kartographierer Delorme hat auf einem in 2006 herausgegebenen Höhenprofil der von Herrchen gewählten Strecke den Gesamtaufstieg (also nicht nur den Höhenunterschied vom tiefsten zum höchsten Punkt, sondern die Summe aller Passagen, in denen es bergauf geht) mit 3.500 Metern, den Gesamtabstieg mit 3.100 Metern angegeben. Herrchen meint, das kann nicht sein und wäre völlig übertrieben und verdrängt diese Information.
»Das ist doch jetzt alles völlig unwichtig«, meint er.
»Klar. Bis wir vor Anstrengung, Hitze und Kreislaufkollaps zusammenbrechen.«
»Marvin, du musst auch mal die Angst loslassen. Und einfach nur sehen, hören, riechen. Die Mischung aus Brise, Luftfeuchtigkeit, Kiefernharz, Windrauschen und Weite spüren. Es gibt so viel wahrzunehmen – Staub, Lichtstrahlen, Reflektionen, Lungen voller Morgenluft, Himmelblau, Horizont, Canyon. Bis sich alles reduziert auf die Euphorie der Bewegung durch eine grandiose Szenerie!«
Hat er vielleicht von den Pilzen am Wegrand genascht, frage ich mich und würde mich meinerseits auf ein Häuflein vernachlässigtes Elend reduzieren, wenn ich es nicht bereits wäre.
Die Kälte ist für Ende Mai ungewöhnlich. Als äußere Schicht trägt er einen bequemen Pulli (Fjällräven Vergio, 220 Gramm…) und seine Küchenwaagenhose. Schlimmer ist da schon der GoLite Ultra Lite Poncho/Tarp (300 Gramm auf der Küchenwage), den er als Regenschutz im Rucksack trägt. Inständig hoffe ich, dass es nicht regnen möge. Das ist mein heutiges Horrorszenario: Erst gezwungen zu sein, diese modische Blamage anzulegen und dann damit in die Schlucht zu stürzen. Unser Nachruf in der Presse trüge die Schlagzeile: ›Katastrophe im Grand Canyon: Abgestürzter Tourist war als Rübezahl verkleidet!‹.
Ein Shuttlebus – wie gesagt, nur sie dürfen auf diesem letzten Straßenabschnitt bis zum Canyon fahren – überholt uns und bringt eine Ladung Wanderer zum Beginn des Wanderwegs. Wenige von ihnen werden heute den Nordrand des Canyons als Ziel haben. Mit Broschüren und auf Tafeln am Wegrand warnt die Nationalparkverwaltung eindringlich davor, an einem Tag den Canyon vollständig hinab und wieder hinauf zu laufen. Sie empfiehlt, sich für eine Canyondurchquerung drei Tage Zeit zu nehmen und zwei Mal mit kostenpflichtiger Erlaubnis auf den Campingplätzen am Weg zu übernachten.
Bestimmt alles Umsatzschinderei, meint er und beruft sich auf dubiose Internetseiten, nach denen der Rekord für eine Durchquerung des Canyon bei drei Stunden liegt. Die an gleicher Stelle eigenveröffentlichten Zeiten verschiedener Ultraläufer, die sich an der Strecke versucht haben, liegen zwischen fünf und sieben Stunden. Er selbst hat sich, oh heilige Einfalt, ein Zeitlimit von sechs Stunden gesetzt.

Am Rand
Kurze Zeit später sind wir am ›Trailhead‹. Von hier haben wir, oh heilige Helene, den ungebremsten Blick in den Canyon. Er bleibt sehen und fotografiert. »Phänomenal. Phantastisch«, murmelt er. »Wäre ich ein Vogel, würde ich jetzt meine Schwingen ausbreiten.«
Ich bin geschockt. Die Schönheit der Szenerie ist mir völlig zweitrangig. Dieser verdammte Graben sieht einfach phänomenal tief und phantastisch breit aus. Wie soll man da jemals zu Fuß hindurchkommen? Und geschweige denn in wenigen Stunden? Der Ausblick von dieser Stelle offenbart das ganze, verrückte Ausmaß seines Vorhabens. Ich zittere und leuchte in allen Primärfarben der Angst: Todesangst. Angst vorm Fallen. Angst vor Schmerz. Und Angst vor der Angst. »Noch können wir umkehren«, krächze ich.
Seine Gefühlslage dagegen ist für seine Verhältnisse normal, also nah ihres einfältigen Grundzustands. »Nein. Das können wir nicht«, glaubt er, als hätte ihn Priesterin Erde vor ihrem felsigen Altar grad frisch konfirmiert. Selig sind die geistig Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich. Was sie zumindest so lange glauben, bis sie von der Realität eingeholt werden.
»Du hast ja keine Ahnung«, bibbere ich. »Keine Ahnung, was uns da unten erwarten wird.«

Runter
Er sagt nichts. Stattdessen tut er es einfach: Den ersten Schritt hinunter. Ist selbst ein wenig erstaunt darüber, als wären ihm seine Beine geistig einen Schritt voraus. Keine ganz unwahrscheinliche Theorie, wie ich finde. Wir laufen. In Serpentinen geht es auf einem schmalen Pfad bergab.
Wir sind nicht die Einzigen hier, aber die Einzigen, die laufen. Voraus wandert ein Pärchen, das wir überholen müssen. Er ruft: »Excuse me!« und quetscht sich vorbei. Viele solcher Manöver folgen auf den nächsten Kilometern. Was seine Weggefährten und er voneinander halten, während er auf dem schmalen Pfad eine linke Spur einführt, könnte man wahrscheinlich mit ›Slalomstrange trifft Geistesgestörten‹ überschreiben. Bemerkenswert sind die verschiedenartigen Reaktionen auf sein »Excuse me!«. Einige erschrecken (häufig Asiaten) und springen förmlich zur Seite, einige bleiben artig talseits stehen, grüßen und lassen ihn passieren (häufig Amerikaner), andere reagieren kaum und weichen ohne ihn zu beachten geschätzte fünf Millimeter bergseits aus (Nationalität nicht erkennbar, gefühlt Deutsch).
Sein Blick richtet sich abwechselnd auf den Weg vor uns und auf die Südwand des Canyons. Gezackt windet sich der Weg so steil und winkelig an der Felswand hinab, als hätte ein sagenhafter Blitz ins Erdinnere seine Bahn gebrochen. Es wird höchste Zeit für ein erstes Video mit seiner Kleinbildkamera (Samsung i7, 250 Gramm incl. Akku und Speicherkarte…).
An steilen Stellen, und damit sehr häufig, besteht der Weg aus Stufen. Wobei das Wort ›Stufen‹ eher falsche Vorstellungen weckt, eigentlich sind es maximal handbreite Steinplatten, die rohbelassen senkrecht in den Weg gerammt wurden. Dazwischen ist viel Platz für ein Sammelsurium aus Steinen, Schlamm, Wasser und Wurzeln. Man könnte diese Stellen vielleicht laufen, es wäre jedoch ziemlich riskant. Ich halte ihm zugute, dass er dieses Risiko nicht eingeht.
So findet er seinen Rhythmus zwischen Stufen, Wanderern, Ausblicken und Videos. Mal geht er, und falls es geht, läuft er.
»Warum läufst du überhaupt?«, habe ich ihn einmal gefragt, ohne viel Hoffnung auf eine sinnvolle Antwort oder gar darauf, ihn vom Laufen abzuhalten.
Es blubberte aus ihm heraus, dass diese gleichzeitig fließende und federnde Fortbewegung gewissermaßen den sinnlichen Horizont öffne. »Man erfährt eine Strecke, ein Gebiet viel intensiver. Meine Theorie für diesen Effekt ist, dass beim Laufen die Menge der Eindrücke pro Moment so groß wird, dass man sie unterbewusst verarbeiten muss. Laufen legt gewissermaßen ein Glasfaser-Breitbandkabel von der Außenwelt direkt ins vegetative Nervensystem, das die Sinnesflut runtermümmelt wie Krümelmonster Kekse-Kekse-Kekse.«
Aus welchen darmgleichen Hirnwindungen sickert bloß eine derartige mentale Inkontinenz? Und wie soll man mit so jemandem einen motivierenden Dialog über Müßiggang, Mattigkeit und Missmut führen?
Er ergeht sich weiter in schöngeistigen Schwärmereien. Ich führe das darauf zurück, dass nach dem Passieren von ›Cedar Ridge‹, etwa 2,4 Kilometer vom Südrand entfernt, zwei Dinge passiert sind: Das uns umgebende Panorama ist, wenn man denn einen Sinn dafür hat, obszön phantastisch geworden. Und weiter und weiter laufen wir hinein, bis es das Blickfeld füllt, wie es nachts der Sternenhimmel tut. Gleichzeitig hat die Dichte von Wanderern auf dem Weg stark abgenommen. Auf langen Passagen laufen wir allein. Das ist ein starker Kontrast zu gestern, als wir noch mit dem Auto am Südrand unterwegs waren. Dabei wirkte der Canyon entfernt und abstrakt. Zudem war Memorial Day Wochenende und die Aussichtspunkte, Straßen, Parkplätze und Besucherzentren quollen über vor Naturliebhabern und ihren dröhnenden SUVs. Hier nun ist es vergleichsweise ruhig und einsam. Er denkt, jetzt wäre er ein Teil des Panoramas geworden. Jetzt hätte er Himmel und Erde für sich allein und könne sich daran satt sehen.

Maultiere
Das ist natürlich ein Trugschluss; näher kommender Hufschlag beweist es. Die erste Maultierkarawane kommt uns entgegen.
Sitte und Nationalparkaufsicht gebieten in dieser Situation dem Wanderer: Bergseits ausweichen, stehen bleiben und passieren lassen. Maultiere haben hier Vorfahrt, genau wie links fahrende und links blinkende Firmenwagen auf der A7. Sie tragen sogar den gleichen Gesichtsausdruck zur Schau wie deren Fahrer: Stur, starr, stressig.
Schnell sind die Maultiere allerdings nicht gerade. Auf ihnen trottet eine Schar von vielleicht fünfzehn Outdoor-Don-Quixotes dicht an uns vorbei. Weil das etwas dauert, haben wir ausreichend Zeit uns die Reiter anzuschauen. Mir kommt ihre Stimmung etwas gedrückt vor, einige verbreiten den Eindruck, als hätten sie gerade eine Zwölf-Stunden-Schicht in der telefonischen Beschwerdenannahme der Deutschen Telekom hinter sich. Merkwürdig, eigentlich machen sie doch alles richtig, wenn sie sich hier hochtragen lassen.
»Nicht gerade die ›Frei und mit wehender Mähne dahingaloppieren‹-Atmosphäre hier, oder?«, findet auch Herrchen. Trotzdem begrüßt er den ersten Reiter mit einem freundlichen »Hi!«. Mit versteinerter Mine erwidert der wohlgenährte Mann einen unverständlichen Gruß, wobei nicht ganz klar ist, ob vielleicht doch nur das Maultier gefurzt hat.
Auch an den anderen Reitern perlt sein Begrüßungslächeln ab wie an einem frisch gestriegelten Maultierhintern.. »Schau sie dir an«, sage ich. »So sehen die gescheiterten Leser von Laufbüchern aus. Ex-Jünger solcher Selbstfindungsschnitzeljagden wie ›Forever Young‹ von Dr. Strunz. Dabei ist das Einzige, das sie irgendwann ›forever‹ sein werden, ›dead‹. Und wenn man bis dahin noch etwas vom Leben haben will, sollte man sich bloß nicht von Laufbüchern leiten lassen.«
Er knurrt etwas, das alles Mögliche bedeuten kann und ist froh, als er endlich wieder loslaufen kann.

Inner Gorge
Das Terrain wird vor der Inner Gorge, der eigentlichen Schlucht des Colorado, etwas flacher. Seine Laufgeschwindigkeit steigt. Lange Hose und Pulli verschwinden im Rucksack, und von nun an läuft er in Shorts und einem dünnen, langärmeligen ›Techfit‹ Hemd. Es soll vor Sonne schützen und den Körper kühlen. Er meint, genau das tue es auch.
Hier ist der Pfad hinab zur Inner Gorge seitlich mit kantigen, feldsteingroßen Steinbrocken eingefasst. Dazwischen liegt Staub, meist rot, manchmal auch graubraun oder sogar grünlich braun. Einige Passagen sind nahezu waagerecht, man sieht den Wegverlauf für die nächsten 100 Meter, bevor der Pfad wie eine schwungholende Achterbahn abknickt und sich wieder steil in Richtung Colorado hinunterarbeitet. Dahinter breiten sich Milliarden von Jahren felsiger Geologie wie eine Konditorauslage aus Feuer, Wasser, Erde und Luft aus. »Das sind Bilder, oder?«, murmelt er und dreht wieder ein Video. »Als spiele Mutter Natur Jimi Hendrix und überböte sich selbst mit immer neuen, virtuosen Farbspielsoli.« Das Bemerkenswerteste an den Videos, die er auf dieser Tour dreht, sind übrigens nicht die Bilder, sondern der schwärmerische Tonfall seiner Kommentare dazu. Klosterschüler könnten kaum andächtiger von Amsterdamer Kifferlokalen sprechen, als er es auf diesen Videos bei der Beschreibung seiner Laufstrecke tut.
Noch über eine Ebene hinweg und wir stehen am Rand der Inner Gorge. Dort unten fließt er. Grünlich schäumend wie mein Neid auf Kollegen, deren Herrchen Sport für körperlichen Liebesentzug halten. Machtvoll, wie ich es nie sein werde. Und mächtig voll mit Touristen in Whitewater-Rafts: Der Colorado. In einem weiten Bogen schwingt sich der Weg hinab. Daher ist es fürs Erste mit weitschweifenden Ausblicken vorbei; jetzt laufen wir in eine enge Schlucht hinein.
Nur noch drei bis vier Kilometer sind es bis zum Ende unseres Abenteuers, so wie ich es mir vorstelle: Nämlich bis zum einzigen Notfalltelefon an der Strecke. Es befindet sich auf der Phantom Ranch, dem geografischen Tiefpunkt dieser Tour und bietet uns die letzte Chance, hier lebend rauszukommen. Nämlich per Helikopter. So weit, wie wir jetzt schon hinter seinem Zeitplan liegen, wäre das gleichzeitig der einzige Weg, tatsächlich sechs Stunden nach dem Start auf der anderen Seite zu stehen.
Davon unbeeindruckt hält er an. Zeit für eine Stärkung. Er hat sechs ›Powerbars‹ dabei. Der Powerbar ist gewissermaßen der Las Vegas Strip unter den Snacks. Alles drin, was das Herz begehrt, aber all das ist künstlich, nachkonstruiert und man hat es bei übermäßigem Genuss schnell über, was bei ihm nach etwa einem halben Riegel der Fall ist.
Kurz darauf machen wir schon wieder eine Pause. Der Speicherchip in seiner Kamera ist schon voll und muss gewechselt werden. Er hält an und kramt Ersatz aus seinem Rucksack. »Von jetzt an machen wir lieber Fotos«, meint er. »Sonst sind irgendwann die Akkus leer.«
»Meiner ist schon leer«, maule ich und werde ignoriert.

Über den Colorado
Zügig läuft er weiter, angezogen vom Anblick der Brücke über den Colorado. Wir sind nicht die Einzigen, die von diesem Platz angezogen werden: Es treiben sich eine ganze Menge Wanderer, Camper und Raft-Fahrer aus aller Herren Länder hier herum. Übrigens: Keiner von ihnen läuft.
Wir haben die Brücke erreicht. Er findet es bis hierher wenig anstrengend. Allein seine Oberschenkel »merken das Bergablaufen etwas«. Wir haben uns jetzt 1.500 Höhenmeter hinuntergearbeitet. Die 1.800 Höhenmeter bis zum Nordrand liegen noch vor uns. Das sind lächerliche 500 Stockwerke oder sechseinhalb Mal vom Boden auf die höchste Aussichtsplattform des Eiffelturms, 22 Mal auf die Aussichtsplattform des Hamburger Michels, 67 Mal den gefürchteten ›Heartbreak Hill‹ am Ende des Boston Marathons oder geschätzte 600 Mal die Höhenunterschiede auf seiner Trainingsrunde an der Alster. Glaubt man Delorme (was er ja nicht tut), müsste man die Vergleichszahlen nahezu verdoppeln. Dazu noch verbleibende 25 Kilometer Distanz. Würde ich unseren Powerbars damit nicht zuviel Ehre erweisen, bräche ich jetzt ins Essen. Ich will den Helikopter. Sofort. Er freut sich auf das nächste Teilstück zum Cottonwood Campground. Das ist so dermaßen naiv, dass mein Nihilismus nicht ausreicht, dem gegenüber emotional unbeteiligt zu bleiben. In einem für mich ungewöhnlichen Anfall von Eifrigkeit denke ich zaghaft über politische Allianzen mit strategisch wichtigen Körperstellen nach. Wer sich dort günstig positioniert, kann in diesem Spiel nachhaltige Wettbewerbsvorteile herausarbeiten.
Am anderen Ende der Brücke geht er mit seinem hautengen Outfit und Oakley Half-Jacket Augenspoilern auf eine Gruppe Osteuropäer zu. Was kommt nun? Will er sich als Witzfigur westlicher Wohlstandsneurosen präsentieren? Er fragt in die Gruppe von drei Männern und einer Frau, ob sie denn ein Foto von ihm am Fuße der Brücke machen würden. Die Frau würde. Und lichtet ihn erst in selbstgewählter Pose ab um ihm dann eigene Vorschläge zu unterbreiten, wie er sich drapieren müsse um besser zur Geltung zu kommen. Bevor ihre Kreativität außer Kontrolle gerät und sie womöglich noch riefenstahlische Ambitionen entwickelt, dankt er und wir laufen weiter.

Phantom Ranch
Hinter der Brücke wird der Untergrund sandig und vergleichsweise eben. Statt über rote Felsen laufen wir hier unten durch grüne Vegetation. Die besteht in erster Linie aus Mesquite-Bäumen und Weiden, die das Sonnenlicht sieben und Schatten spenden, die wie Tarnnetze aussehen. Darunter verstecken sich Stolperfallen, Unebenheiten auf dem Weg. Gut. Das erhöht meine Chance auf den Helikopter. Die Temperaturen sind wärmer, aber weiterhin erträglich. Viele Menschen wuseln hier unten herum.
Vorbei am Bright Angel Campground erreichen wir schließlich die Phantom Ranch, ein Häuflein dunkler Holzhütten verstreut in Bäumen und Sträuchern, die hier vom Wasser des Bright Angel Creek genährt werden. Der Wanderweg geht mitten hindurch. Die ›Einwohner‹ geben sich größtenteils dem Müßiggang hin, sitzen im Schatten und bewegen sich auffallend wenig. Alle sehen etwas erschöpft aus. Nur wir rennen hier rum und suchen die erste der vier Wasserstationen entlang des Weges. Die Zwei-Liter Trinkblase in seinem Deuter TransAlpin (zusammen auf der Küchenwaage nachgeprüfte 1.160g…) ist fast leer. Gar nicht so leicht zu finden, das Trinkwasser, inmitten dieser verstreuten Hütten. Wir irren etwas umher und machen schließlich einen einzeln stehenden Wasserhahn aus. Daneben steht auf einer kleinen Holzplanke in weißer Schrift: ›Trinkwasser‹.
So eine Rucksack-Trinkblase befindet sich, wenig überraschend, im Rucksack. Den Wasserhahn da hineinzuhalten wäre unpraktisch. Daher hat er eine leere PET-Flasche dabei. Noch so ein Tipp aus dem Internet. Damit lässt sich die Trinkblase einfach und sicher befüllen; allerdings fällt so auch die leicht bräunlich-grüne Färbung des Wassers in der Flasche auf.
Die Leute um uns herum – vielleicht zehn an der Zahl, alle sitzen irgendwo, auf Stufen, auf Steinen, auf Baumstümpfen – sehen teilnahmslos zu, wie er die Trinkblase befüllt, sich satt trinkt und dann eine Flaschenladung Wasser über Kopf und Oberkörper (einschließlich Laufhemd) ausleert. So werden unsere Zuschauer unfreiwillig Zeugen einer Wet-T-Shirt-Darbietung, deren Peinlichkeitsniveau ohne weiteres mit dem von Stadion-Flitzern mithalten kann.

Zeitplan
Solchermaßen erfrischt ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme. Er liegt mehr als anderthalb Stunden über seinem aus der Luft gegriffenen Zeitplan. Damit hat er fast die Hälfte der vorgesehenen Zeit auf dem ersten Drittel des Weges, noch dazu bergab, verbummelt. Langsam wird er also mit der Realität dieser Montagskonstruktion von Laufhirngespinst konfrontiert. Sehr gut. Der Helikopter kann schon mal den Motor anwerfen.
»Lass’ uns gleich den Helikopter anrufen«, schlage ich vor. »Das ist unsere einzige Chance, jemals wieder heil nach oben zu kommen.«
Er ignoriert mich, führt einige Kopfrechnungen durch, hält den Zeitplan unter neuen Prämissen für ambitioniert, aber immer noch machbar, und rennt los.
Ich erwische mich dabei, wie ich vor lauter Frust dem Blinddarm vorflunkere, Herrchen hätte gerade ein Knäuel Laufsocken mit einem Powerbar verwechselt und heruntergewürgt. Jeden Moment könnten die vorbeikommen. Der Gute kann ja nichts sehen und hat immer eine Wahnsinnsangst vor Entzündung. Das hebt meine Stimmung etwas. Allerdings nicht viel.

Joghurt
Ausgangs der Phantom Ranch sitzt vor einer Hütte ein Amerikaner auf einer einfachen Holzbank und ruft uns zu: »Joghurt!«
Damit wirft er viele Fragen auf, von denen ›Warum Joghurt?‹, ›Warum hier?‹, ›Warum von uns?‹ und ›Kommen wir jetzt ins Land der zweibeinigen Laktofetischisten?‹ nur einige sind.
Dann reckt er zwei Daumen in die Höhe, schüttelt sie ein wenig vor und zurück und wiederholt: »You’re good!« Ach so. Die Amerikaner. Immer so höflich. Sagen ›good‹ wenn sie ›lunatic‹ meinen. »Bilde Dir nichts darauf ein«, rate ich meiner laufsüchtigen Gegenpartei, gewissermaßen dem auswärtigen Schweinepriester, »das hätte der auch gesagt, wenn du hier im rosa Tüllröckchen im Kreis gehüpft wärst.«
»Willst du’s herausfinden?«
»Wo nehmen wir das Röckchen her?«
»Wir tauschen dich dafür ein. Ihr verkörpert in etwa den gleichen Inbegriff von Männlichkeit.«
»Hallo Mädels«, wende ich mich den Oberschenkelmuskeln zu um Koalitionsverhandlungen aufzunehmen, »alles klar bei euch?«

Körperliche Bedürfnisse
Die nächsten 11,1 Kilometer bis zum Cottonwood Campground sind vergleichsweise eben, mit einem Anstieg von lediglich 470 Höhenmetern. Man läuft größtenteils entlang des Bright Angel Creeks und befindet sich nicht mehr im eigentlichen Grand Canyon, sondern in einem Seitenarm, dem Bright Angel Canyon. Die Temperatur beträgt um die 30 Grad Celsius im Schatten, was für Ende Mai um die 11:00 Uhr herum eher kühl ist. Er hat Glück. Dieses zum großen Teil schattenlose Teilstück der Wegstrecke kann zu dieser Jahreszeit auch gerne 40 Grad Celsius heiß werden. Eigentlich sollte man sich diese Passage nicht gerade auf die Mittagszeit legen, aber das scheint ihm ja egal gewesen zu sein.
Wir befinden uns nun gefühlt und auch tatsächlich im Hinterland des Nationalparks. Mal rechts, mal links führt der Weg durch die Uferregion des Bright Angel Creeks. Blüten blühen, die Vegetation vegetiert, Kriechtiere kriechen und der Harndrang drängt. Zum Glück ist es nur die Blase, die sich meldet. Sonst kann so ein Lauf ja auch schnell einmal zum Triathlon werden, wobei Laufen die eine Disziplin ist. Die anderen beiden wären Ringmuskulatur zusammenkneifen und Froschgang durch Katzenklauenakazien. Die heißen so, weil… Nun, wenn man einmal hineingekrochen ist, dann weiß man, warum sie so heißen. Infrastruktur für menschliche Bedürfnisse ist auf den Kilometern nach der Phantom Ranch rar gesät. Genauer gesagt ergeben sich eigentlich auch kaum Gelegenheiten, kurz vom Weg abzuweichen, da der Canyon hier ziemlich eng ist. Zu eng auch für einen Helikopter, stelle ich zerknirscht fest.
Also muss man eine andere Lösung finden. Seine sieht so aus: Eine möglichst lange, gerade Wegstrecke suchen, in deren Mitte anhalten, Körper nach links einem Gebüsch zuwenden, Kontrollblick nach rechts, ob Wanderer aus der Gegenrichtung kommen, Kontrollblick nach links, obwohl es natürlich kaum sein kann, dass aus unserer Richtung jemand käme, der schneller wäre als wir, und los. In der Bewegung zu dem erneuten Kontrollblick nach rechts bleibt sein Blick auf einer Anglerin haften, die bis eben vielleicht fünf Meter entfernt von uns am Fluss hinter just diesem brusthohen Gebüsch verborgen war, auf das wir gerade zielen. Sie lächelt und hat eine Rute in der Hand. Von diesen beiden Dingen abgesehen hat sie mit ihm nicht viel gemeinsam: Sie wirkt gelöst, sein entspannter Ausdruck verformt sich gerade zu einem verkrampften Begrüßungslächeln, sie scheint viel Zeit zu haben, er zeigt Anzeichen von Unruhe und sie ist offensichtlich fertig mit ihren Verrichtungen. Glücklicherweise erspart der Blickwinkel ihr genauere Einblicke.
»Irgendwas gefangen?«, fragt er.
»Ja«, strahlt sie zurück. »Das Abendbrot. Nette Aussicht hier, oder?«
»Ja«, nickt er und starrt auf den grauen Felsklotz am gegenüberliegenden Flussufer, der inmitten aller Sehenswürdigkeiten hier wirkt wie Helmut Kohl umgeben von Bikini-Models.
Nach einem kurzen Informationsaustausch über Forellenbesatz in den Flüssen des Grand Canyon National Parks können wir die Dinge zurechtrücken und uns weitgehend unbeschadet aus der Situation retten.
»Nicht schlecht«, meine ich, als wir wieder unterwegs sind, »hier unten campieren und ein paar frische Forellen zum Abendbrot aus dem Fluss ziehen.«
»Stimmt.« Weiter geht er nicht darauf ein. Er läuft. Ich drehe eine weitere Runde durch seinen Körper auf der Suche nach neuen Freunden.

Hitze
Es ist mittlerweile spürbar warm. Sein Hemd ist schon lange wieder getrocknet. Da sieht er vor sich auf dem Weg ein etwa topfgroßes Wasserloch. Kurz entschlossen hält er an, streift Rucksack und Langarmshirt ab und weicht letzteres in dem laufwarmen Nass ein. Dann erst fällt ihm ein: ›Das ist doch hoffentlich ein Wasserloch, oder?‹. Nun, sonst hätte er eben den Rest des Weges in Maultierpisse getränkt zurückgelegt. Das hätte gegenüber dem aktuellen Zustand seines Funktionsshirts keine wesentliche Geruchsverschlimmerung bedeutet.

Erstes Krampfzucken
Bei Ribbon Falls, etwa 2,5 Kilometer vor Cottonwood, meldet sich das erste Krampfzucken. Wade rechts. Er läuft weiter. Mein neuer Freund zuckt wieder. Diesmal hält Herrchen an und kramt aus seinem Rucksack ein Röhrchen mit Salz, streut es auf die Hand, leckt, und spült mit Wasser aus der Trinkblase nach. Er läuft weiter. Aber während es auf dem Weg nach Cottonwood nun beständig bergauf geht, geht es in den Beinen rapide bergab. Das hohe Tempo fordert seinen Tribut. Seine vordere Oberschenkelmuskulatur hat durch anaerobe Glykolyse vermehrt Laktat gebildet und damit eine akute metabolische Gewebeazidose ausgelöst, prägnanter formuliert: ›Seine Quads sind Toast‹. Bis zu den ersten Krämpfen dort ist es nicht mehr weit, bis zum Nordrand ist es noch seeehr weit. Neh-nene-nehneh! He-helikopter!

Notfallplan
An dieser Stelle muss ich von seinem missglückten Notfallplan erzählen. Im Canyon gibt es sehr wenige Möglichkeiten zu telefonieren. Münzfernsprecher sind außer auf dem Gelände der Phantom Ranch nicht vorhanden. Mobiltelefone funktionieren so gut wie nicht (um es genau zu sagen: Einzig der Mobilfunkanbieter Alltel unterhält einen Sendemast im Grand Canyon Village am Südrand, der nach dem exotischen CDMA-Standard auf 800 MHz funkt, und der sich durch ein Höchstmaß an Inkompatibilität mit unseren europäischen Mobiltelefonen auszeichnet). Es verbleiben also nur noch Funkgeräte und Satellitentelefone für Notfallnachrichten, wenn man mal von den gerne in Survivalbüchern beschriebenen Medien wie Trillerpfeife, zu Boden-Luft-Signalen ausgelegter Kleidung und Körpersignalen absieht. Ich meine, wer möchte schon nackt mit heilandsähnlich ausgebreiteten Armen neben seiner verstreuten Kleidung aufgefunden werden, während er in eine Trillerpfeife tutet? Satellitentelefone sind bereits in der Anschaffung teuer, im Unterhalt jedoch unberechenbar aufgrund komplexer Tarifstrukturen, gegen die sich herkömmliche Mobilfunktarife (die wiederum ›nur‹ von Tageszeit, Minutentaktung, Sender, Empfänger, Aufenthaltsort, Datennutzung, SMS-Tarif, Anzahl der Freiminuten, Vertragslänge, Körpergröße, Name der Hauskatze, Datum der letzten Intimrasur etc. abhängig sind) verhalten wie Liberalismus zu Exhibitionismus. Bleibt nur das Funkgerät. Er entschied sich für ein in Deutschland verbotenes Modell der Marke Midland mit angeblichen 26 Meilen Reichweite. Gekauft wurde bei Ankunft in den USA, getestet in Cameron, achtzig Kilometer vom Grand Canyon Village entfernt. Kirsten blieb mit einem der Geräte im Zimmer des Cameron Trading Posts zurück, er fuhr mit dem Mietwagen exakt eine Meile weit weg hinter einen kleinen Hügel aus rotem Sandstein. »Hallo?« Funkstille. »Hallo?« Das Midland-Gerät verhielt sich so mitteilsam wie eine besprochene Gürtelrose. Bestimmt störten Erdstrahlen oder gar Vortexe. Also etwas näher herangefahren. »Hallo?« Die Prozedur wiederholte sich mehrere Male, bis er auf dem Parkplatz des Cameron Trading Posts stand, ohne dass ein Signalaustausch vonstatten ging. Etwa zehn Meter von der Tür des Hotelzimmers im Trading Post entfernt hörte Kirsten ihn dann das erste Mal, wobei nicht ganz klar war, ob durch die Tür oder durch das Funkgerät. Mit Schnur verbundene Joghurtbecher bieten befriedigerende Telekommunikationslösungen. Das Funkgerät blieb wie der Notfallplan auf der Strecke.

Krämpfe
Seine Wade zuckt immer noch, aber: »Ich scheine sie unter Kontrolle bringen zu können«, denkt er. Das geht etwas zulasten der Laufästhetik und –ökonomie, aber er kommt weiter voran. Bald wird Cottonwood Campground in Sicht sein. Die Wade kann sich für keinen Koalitionspartner entscheiden und hält sich auf leicht besorgniserregendem Niveau stabil. Wir laufen durch ein breites Tal voller Blüten und Büsche. Menschen begegnen uns selten. Die Ausnahme bildet eine Gruppe von drei Wanderern, die sich unter einen Busch am Wegrand zu einer schattigen Siesta zusammengekauert hat. Wir sehen sie erst, als wir direkt vor ihnen sind. Zum Glück war gerade keine Zeit für eine Pinkelpause; wenn wir da unabsichtlich reingehalten hätten, wäre die Situation wohl nicht mit Smalltalk über Fischhege zu retten gewesen
Rumms, da ist er. Unvermittelt. Hart. Erbarmungslos. Schöner, als ich ihn mir je erträumt hätte: Der Oberschenkelkrampf. Erst rechts, dann sofort beim nächsten Schritt links. Oberschenkelkrämpfe sind ihm neu, die gab es zuhause an der Alster nicht. Er stoppt und geht einige Schritte. Der Krampf lässt nach. Er läuft. Rumms, da ist er wieder. Im Gegensatz zum Wadenkrampf entsteht er nicht allmählich, sondern jäh, unvermittelt und gänzlich unpassend, wie ein Knoblauchrülpser beim Staatsbankett.
Er experimentiert ein wenig mit diesem neuen Körpergefühl herum. Variiert Schrittlänge, -frequenz, Fußaufsatzpunkt und hoppelt durch den Grand Canyon wie Rumpelstilzchen nach einer Party bei Pete Doherty. Der Krampf bleibt. Trotzdem läuft er weiter. Testet. Nichts hilft. Er bleibt stehen. In diesem Moment scheint es, als rollten sich seine Beine unter ihm auf. Die Muskeln werden hart wie warmer Marmor und entwickeln ein ermutigendes Eigenleben. »Weiter so, Jungs!«, rufe ich ihnen zu, »Das könnt ihr ja super!«. Es fehlt nicht mehr viel, und wir können als retardierendes Moment in ›Lord of the Dance‹ eingesetzt werden. Gegen dieses Gewitter von fehlgeleiteten elektrischen Impulsen im Körper ist jeder Wille machtlos. Fast jeder, stelle ich entnervt fest, als er wieder das Laufen anfängt. Er hat viel gelesen über Meditation, Atemübungen, mentale Techniken. Bisher hat ihm nichts davon jemals geholfen. Jetzt auch nicht. Die Achtsamkeitsübung aus der Lektion ›Mit den Körperempfindungen arbeiten‹ von Jack Kornfield ist so wirkungslos, als versuche in Barteln gefangenes Krill, den hungrigen Blauwal mit Filterhärchen K.O. zu schlagen. Irgendwie kämpft er sich weiter. Aber der Kampf gegen den Krampf kostet, da bin ich mir sicher. Es liegen noch über elf Kilometer und 1.300 Höhenmeter vor uns. Das schafft er nie. Solchermaßen ermutigt erreichen wir später und gezeichneter als vorhergesehen den Cottonwood Campground.
Wenig los hier. Die Zeltplätze liegen wie kleine Höhlen im Gebüsch rechts und links des Weges verstreut. Auf wenigen stehen Zelte. Aber es gibt Trinkwasser, wieder aus einem Hahn. Diesmal haben wir beim Befüllen der Trinkblase – sie ist schon wieder leer – und dem Wet-T-Shirt-Ritual keine Zuschauer. An einer Infotafel hängt ein Thermometer: 85 Grad Fahrenheit oder etwa 30 Grad Celsius. Zeitlich liegt er noch auf der Höhe seines ambitionierten, aber machbaren Plans. Nun, der dürfte jetzt Makulatur sein. »Komm, wir suchen jetzt den Ranger und ordern den Helikopter«, meine ich kameradschaftlich. »Hat doch alles keinen Sinn mehr.«
Er schultert den Rucksack mit der gefüllten Trinkblase, schüttelt kurz die Beine aus und läuft los.
Ich versuche mich aufzubauen, indem ich mit dem Blinddarm eine Runde Blinde Kuh spiele. Das ist sonst immer nett, weil er nie mitspielen will, sich aber nicht wehren kann. Aber es hilft mir gerade auch nicht viel.

Nach Roaring Springs
Der Weg wird steiler. Auf der nächsten Strecke bis Roaring Springs sind nur 3,3 Kilometer, dafür aber 340 Höhenmeter zu bewältigen. Er bewältigt sie halb gehend, halb laufend. Stehen bleiben kann er nicht, dann spielen seine Oberschenkel wieder Bullenreiten ohne Bulle mit ihm. Auf einer Brücke über den Bright Angel Creek kommt uns ein Wanderer entgegen. »Hey, machst Du einen R2R?« fragt der. Das steht für Rim-to-Rim, also eine Canyondurchquerung in einem Stück. Wie hat er ihm das nur angemerkt? Bestimmt an seinem Laufstil, der insofern zur Landschaft passt, als dass wir gerade durch die Erdschichten des Devon-Zeitalters laufen, wo die primitive Tierwelt erste plumpe Gehversuche an Land unternommen hatte.
»Ja«, strahlt er zurück.
Wie meinte er vorhin noch so vollmundig, es gäbe so viel wahrzunehmen? Eigentlich müsste er jetzt seinen Muskelschmerz wahrnehmen, stattdessen beflügelt ihn schon wieder Mutter Natur, die sich hier »mit türmenden, roten Felsklippen aus ihrer wilden Teenagerzeit, garniert mit viriler Vegetation, maßlos schön präsentiert«, wie er findet. Nicht, dass er sich mit seinem Körper arrangiert hätte, er nimmt ihn schlichtweg nicht wahr, wie ein spielendes Kind im Regen. Sein Puls ist mittlerweile über 160 Schläge pro Minute angestiegen. Das kann er unter günstigen Bedingungen vielleicht 90 Minuten aushalten, Maximum. Ich weise ihn darauf hin. Er läuft. Ich kläre ihn darüber auf, dass dieser Raubbau an der Muskulatur zu akutem Nierenversagen führen kann. Durch Schädigungen des Muskelgewebes kommt es zur Freisetzung des Proteins Myoglobin ins Blutplasma. Myoglobin wird von den Nieren aus dem Blut gefiltert und sieht im Urin bräunlich aus. Zuviel davon verstopft den Nierenfilter und bewirkt Nierenversagen. Er läuft.

Der Vermummte
Hinter Roaring Springs wird der Anstieg noch steiler. Nun sind es 4,4 Kilometer und 500 Höhenmeter bis zur nächsten Wasserstelle am Supai Tunnel. Nur knapp zwei Eiffeltürme. Die Aussicht darauf fast so schlimm wie auf einen weiteren Powerbar.
»Schau dir mal die Wand da vorne an. Ist das nicht phantastisch?« Er zeigt auf eine mächtig hohe und mächtig senkrechte Sandsteinklippe, die über uns einen guten Teil unseres Gesichtsfeldes ausfüllt.
»Da müssen wir doch nicht etwa hoch, oder?«, frage ich.
Natürlich müssen wir da hoch.
Der Anblick von unten ist grandios, entsetzlich, furchtbar schön. Außerdem treffen wir hier den Vermummten.
Irgendwo auf dem Weg, windend, schlängelnd, rankend die Wand empor, irgendwann zwischen Seitenblicken in ein mephistophelisch tiefes Tal voller erdzeitalter Mythen, überholen wir einen Wanderer. Und wenig später überholt er uns. Läuft an uns vorbei. Das erste und einzige Mal, dass uns ein Solches hier widerfährt. Mittlerweile gibt es auch wieder Stufen auf dem Weg, wie schon beim Abstieg auf der Südseite. An der nächsten längeren Treppe fällt der Wanderer vom Laufschritt in einen strammen Gang. Wir schließen zu ihm auf. Er trägt trotz der Hitze eine lange, wallende Hose, eine leichte Jacke mit langen Ärmeln, dünne Handschuhe, einen breitkrempigen Hut und darunter ein Tuch, das ihm auf Nacken und Schultern fällt.
»Hey«, sagen wir.
»Hi«, sagt er, ohne sich umzudrehen. »Willst du vorbei?«
»Nein danke.« Das kam ernst gemeint.
»So wie deine Beine aussehen denke ich, du bist Radfahrer«, bahnt sich der Vermummte den Weg in die Konversation so direkt wie ein Traceur beim Parkour. Noch immer kann man sein Gesicht nicht erkennen; selbst in einer Serpentinenkurve wird es seitlich von seinem Nackentuch verdeckt.
Verdammt, wer ist dieser Typ? Wie seine Beine aussehen, ist er wahrscheinlich Beduine. »Eigentlich laufe ich hauptsächlich«, erklärt er.
»Machst du einen R2R?«
»Ja.« Er erzählt, dass ihn Frau und Kinder am Südrand ausgesetzt hätten und jetzt hoffentlich am Nordrand auf ihn warten würden. Dass sie sich nach sechs Stunden dort treffen wollten.
»Das ist ziemlich ambitioniert«, meint der Vermummte und verfällt wieder in einen tippelnden Laufschritt, der bei den Steigungen hier ein etwas schnelleres Vorwärtskommen als Gehen ermöglicht. Wir bleiben dran.
»Ja«, stimmt Herrchen zu, »ich bin mir auch nicht sicher, dass meine Frau es in der Zeit schaffen wird. Sind immerhin über 200 Meilen mit dem Auto und mehrere Abzweigungen.«
Der Vermummte erzählt, dass er aus Kalifornien käme. Dass er Probleme mit der Haut hätte, die er deswegen bedecken müsste. Dann meint er, dass er auch eine ganze Menge laufen würde, obwohl er vergleichsweise alt wäre. Familie hätte er nicht. Er wäre bis Roaring Springs hinuntergelaufen und jetzt wieder auf dem Rückweg.
Während sie sich die Felswand emporarbeiten, plaudern sie – mit Gesten, die so typisch sind für lausende Gorillas und Männer, die über ihren Lieblingssport sprechen – weiter. Das Thema Laufen scheint für Herrchen unerschöpflich, mich ermüdet es zumeist so sehr, dass ich innerhalb kürzester Zeit nicht mehr folgen kann und möchte. Erst langsam dämmert es mir: Er und der Vermummte schmieden gerade einen spontanen Bund aus Kameradschaft und Konkurrenz. Das ist vielleicht einer der widerstandsfähigsten, die es gibt. Womöglich werden sie sich gegenseitig anstacheln und gemeinsam bis an den Nordrand laufen. Flagellation der nach wie vor krampfenden Beine hin oder her.
»Dieser Typ ist mir unheimlich«, stelle ich fest. »Ich mag ihn nicht.«
»Nicht ganz von dieser Welt, oder? Aber er weiß eine Menge vom Laufen.«
»Lass’ ihn doch einfach ziehen, wir brauchen sowieso eine Pause.«
»Lieber lasse ich mich von ihm noch ein wenig ziehen.«

Zum Supai Tunnel
Oben auf der Felswand ist eine kleine Aussichtsplattform, auf der auch einige Wanderer stehen. Der Vermummte und er nutzen die Plattform für eine komfortable Pause von etwa fünfzehn Sekunden.
Nach einem Blick auf seinen Suunto Metron ›Wrist Top Computer‹ (was einfach eine auffallend dicke Digitaluhr mit Höhenmesser und anderen Spielereien ist) meint er: »Wir sind schon bald wieder auf 2.000 Höhenmetern. Berückend, dieser Blick ins Tal, oder? Als schaue man hinab in den Schoß der Erde, dem man gerade entstiegen ist.«
Ich finde es hier eher bedrückend angesichts weiterer 700 Höhenmeter bis zum Nordrand.
Der Vermummte und er laufen weiter.

***
Weiter geht es in der Buchfassung von ES läuft. Die ist im Buchhandel erhältlich - oder bei mir.

16 Kommentare:

  1. Nun sag, wie hast du's mit dem Vermummten? Ist er echt?
    Gretchen

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  2. Gretchen, ja?
    Natürlich ist der Vermummte echt. Es gibt sogar Fotos von ihm. Darf ich aber nicht zeigen. Sagt jedenfalls dieser seltsame schwarze Pudel, der mir ständig nachrennt...

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  3. Oh nein. Du weißt schon, dass mich das jetzt sehr deprimiert, oder?

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  4. Danke. Ich bin nicht die einzige mit bekloppten Laufzielen. Das tut gut.

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  5. Nein, du bist definitiv nicht die Einzige, wenn dich das wirklich beruhigt. Mich würden deine Top 3 der beklopptesten Laufziele interessieren. Unsere jedenfalls sind: (3) Grand Canyon, (2) Olympic National Park South Beach Route, (1) Hamburger Freihafen. Und natürlich Glaskogen in Schweden, aber der kommt in diesem Blog nicht vor, nur in der weniger öffentlichen Black Edition.

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  6. nachdem ich dank eines Orthopäden 1 Jahr nicht laufen konnte und erst seit einem halben Jahr wieder unterwegs bin, laufe ich jetzt erstmal, damit es mir gesundheitlich nicht schlechter geht, als es sein muss. Ich verfolge stur die Theorie, dass Sport einen positiven Effekt haben muss - je mehr, desto besser.
    Und so langsam eröffnen sich mir wieder neue Horizonte. Da ich nebenbei noch gerne bergsteige, eröffnen sich unendliche Möglichkeiten. Vor allem, wenn man 2-Tagestouren in einem Tag machen kann. Es gibt durchaus auch Berge, die mit ein bißchen Kreativität mit Laufschuhen zu machen sind. Ich werde noch berichten, was ich tun werde. Ich habe ein paar schöne Ideen. Erst einmal muss ich aber einen Testlauf Anfang März erledigen.
    Der Grand Canyon würde mich tatsächlich sehr reizen - wenn ich Deinen Bericht so lese.

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  7. Auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: Du weißt schon, dass mich das jetzt ziemlich deprimiert, oder? Ich meine, denk mal daran, was es für deinen Schweinehund bedeutet, durch den Grand Canyon zu laufen...

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  8. Der ist sowieso beleidigt. Ich erzähle ihm dauernd von Bergen und jage ihn morgens oder abends und am Wochenende bei Eis und Schnee vor die Tür. Ich glaube, der Grand Canyon würde ihn schon wieder erfreuen, denn da ist es warm.
    Außerdem bin ich ja eine Frau, und wir setzen immer unseren Willen durch.

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  9. Oh, mein armer Kollege, der da von dir geknechtet wird!

    Leider habe ich grad nicht den Überblick: Gehörst du zu den Besitzern der Black Edition? Und kennst die unerwarteten Folgen, wenn Herrchen seinen Willen durchsetzt? Hoffentlich bist du nicht auch schon so weit!

    Herrchen meint, wenn du schon beim Grand Canyon bist, dann schau doch gleich mal bei Spooky Gulch an der Hole-In-The-Rock-Road vorbei. In der Gegend liefe man bis zum Vergessen. Also Karte oder GPS nicht vergessen.

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  10. nein, ich habe die Black Edition nicht - ich erwäge aber die Anschaffung.
    Grand Canyon dauert noch, ich muss ja erstmal meine Ziele abarbeiten. Als erstes steht ein Testlauf an - von Fladungen über die Rother Kuppe auf die Wasserkuppe. Das dürften >= 20km und einige Höhenmeter sein. Wenn ich das unbeschadet überstanden habe, habe ich ein gutes Gefühl für weitere Ziele.
    Ich weiss aber noch nicht, wie ich von da zurück nach Fladungen komme.

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  11. Wenn man denn schon diesen Wahnsinn unternehmen muss, dann sind Testläufe in der Tat mehr als notwendig. Einfach (oder auch mehrfach) 8-10 Mal den Messeturm 'rauf- und 'runterlaufen. Mit Rucksack. Wenn dich jemand fragt, was du da machst, cool bleiben und behaupten, du wärst ein Special Purpose Vehicle von Goldman Sachs.

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  12. Treppenlaufen mag ich nicht, aber wir haben hier ja ein Mittelgebirge vor der Haustür. Da bin ich schon gelegentlich unterwegs.
    Was den Rucksack betrifft - ich bin eine Frau, klar habe ich einen LAufrucksack (sogar 2, weil der eine von meinem Rücken nicht so angenommen wurde). ;-) Auf dem Weg zur Arbeit ist dort unter anderen zur Zeit ein dicker Ake Edwardsson-Wälzer drin, den ich für den Rückweg brauche. Das ist ganz gutes Training.

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  13. Ja, ein Treppenlauf bietet in der tat wenig landschaftliche Reize.
    Mein Vorschlag: Mit zunehmendem Trainingserfolg Åke einen weiteren wuchtigen Wälzer beistellen. Hm, welchen wohl... ;-)

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