Dienstag

Statt S-Bahn: Diamantweg zur Arbeit

Durchs Industriegebiet zur Arbeit: Keine gute Idee
Meditation lehrt uns viel. Aber reicht das aus, um sogar einen Lauf durch eine der übelsten Industrielandschaften Deutschlands genießen zu können? Dieser Post ist ein Auszug aus dem Buch "ES läuft".

Gedankenfreiheit birgt Risiken
Man liest ja häufiger darüber, wie grenzenlos und vielfältig sie sei, die Gedankenwelt des Menschen. Sie fülle Bände, Opernzyklen oder wäre das eigentliche Fundament grandioser Bauwerke.
Nachvollziehen kann ich das nicht ganz. Denn ich kenne nur Herrchens Gedankenwelt, und die gleicht einer Kuhwiese. Schmatzendes Wiederkäuen wird gelegentlich unterbrochen von nichtssagenden Muhlauten. Er würde sie Ideen nennen. 
Eine davon bahnt sich gerade an. Hilfe.
Wir fahren nach der Arbeit mit der S-Bahn heim. Ein Ablauf ohne größere Überraschungen, es sei denn, man hat den mp3-Spieler auf Zufallswiedergabe eingestellt. Gerade hat er ihn nicht einmal in Gebrauch; stattdessen meditiert er stumpf vor sich hin und hat die Gedanken, die dabei auftauchen, auf Zufallswiedergabe gestellt. Gleich werden wir an am S-Bahnhof in unseren Smart steigen und den Rest der kurzen Strecke bis nach Hause fahren.
»Das ist so etwas wie das Gegenteil von Abenteuer hier«, meint er. »Alltäglich, vorhersehbar, geregelt. Praktisch, aber langweilig.«
Eine meiner wesentlichen persönlichen Schwächen ist es ihn in solchen Momenten nicht einfach ignorieren zu können. So wie er es mit mir macht. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich versuche ihn vor seinen eigenen Entscheidungen zu retten. Meistens merkt er das jedoch und alles wird nur noch schlimmer. »Und was ist daran jetzt so schlimm?«
»Nichts. Nur dass es eben nicht abenteuerlich ist. Und dass wir so sehr auf Zivilisation angewiesen sind. Morgen lassen wir das Auto stehen.«
Ich frage nach und bedauere es augenblicklich: »Und was dann?«
»Dann laufen wir die Strecke.«
»Und setzen uns mit Joggingklamotten in die S-Bahn? Das können wir unseren Mitmenschen ja wohl kaum zumuten.«
»Wieso S-Bahn?«
»Bittewas?«
»Wir fahren nicht S-Bahn.«
»Aber…« Mir dämmert die Ahnung einer nahen Gefährlichkeit, die so gefährlich ist, dass ich sie lieber verdränge, als mich mit ihr auseinanderzusetzen.
Er schaut schelmisch.
Schließlich hauche ich entkräftet: »Du willst den ganzen Weg zur Arbeit laufen?«
»Natürlich.«
»Durch… Über… Wie?«, stammele ich. Wir wohnen an den äußersten südlichen Randbezirken der Stadt. Und arbeiten im Zentrum. Dazwischen liegen zwanzig Kilometer Wald, Moor, Industriegebiet, Hafen, Elbe und Innenstadt. »Das ist fast ein ganzer halber Marathon. An einem Tag.«
»Fast ein ganzer, denn wir laufen auch zurück.«
»Ein… zurück?« Meine Stimme ist so schrill, dass ich sie selber kaum wiedererkenne.
»Klar. Wenn schon, denn schon. Und es ist kein Marathon, zwischen Hin- und Rückweg ist ja Pause.«

Wer braucht schon Zivilisation?
Ich kichere hysterisch. »Hihihi, Pause. Ich nenne es Arbeit. Beruf. Nicht Pause.«
»Schau mal, Marvin«, flötet er wie ein föhngeföntes Alpenmurmeltier.
»Was?«, frage ich entsetzt.
»Ich muss dir etwas zeigen. Und zieh nicht so eine Tapirflunsch, es wird dir gefallen.« Er schaut aus dem Fenster des Triebwagens. »Was genau sehen wir da?«, fragt er.
»Ein Platzhalter Industriegebiet.« Ich sage nicht ›Platzhalter‹, sondern etwas Anderes, das ich hier nicht wiedergeben möchte.
»Und wie sieht es dort aus?«
»Platzhalter.«
»Kann sein. Eigentlich wissen wir das gar nicht. Aber wir finden es heraus. Wir laufen hindurch. Erleben es hautnah. Und dabei entzaubern wir diesen ganzen Zivilisationsmüll wie Auto und S-Bahn und zeigen, dass wir nicht auf ihn angewiesen sind.«
»Na klar. Und dann entzaubern wir doch gleich noch Telefone, Elektrizität, sauberes Trinkwasser und das Internet. Und was wir sonst noch täglich nutzen.«
»Selbstverständlich.«
»Selbstverständlich was?«
»Wir nutzen es, als wäre es selbstverständlich.«
»Selbstverständlich.«
»Jedenfalls tun wir so. Aber was wäre, nein, was wären wir, wenn wir darauf verzichteten?«
»Bescheuert?«, biete ich an.
Dann fangen seine Augen an zu funkeln. »Wir können es, Marvin! Wir unterlaufen sie, die Routine. Wir mystifizieren sie, die Selbstverständlichkeit. Die Zivilisation kann uns mal am Platzhalter lecken.«
Genau dorthin würde ich ihn gerne treten, aber das änderte wohl auch nichts.
»Das ist doch jetzt wieder völlig sinnlos«, seufze ich.
»Im Gegenteil. Laufen intensiviert unsere Wahrnehmung. Und darum geht es: Wenn wir unserer Umwelt mit erhöhter Aufmerksamkeit begegnen, werden wir selbst auf dem Weg zur Arbeit Aufregendes entdecken. Bisher ist uns jede Landschaft, die wir durchlaufen haben, hinterher ans Herz gewachsen. Ist doch logisch, dass wir das mit unserem Arbeitsweg auch tun sollten!«
Ich schaue auf die Schlote einer riesigen Raffinerieanlage, die morgen auch auf unserem Weg liegen wird, und frage mich, wie dort irgendetwas ans Herz wachsen kann, was nicht pathologisch ist. Da zu laufen muss ähnlich belebend sein wie die Blutspende einer britischen Soul-Diva.
Er fährt fort: »Jeden Tag sitzen wir 22 Minuten in der S-Bahn. Eine Fahrt. Das sind im Jahr locker 150 Stunden. An wie viele davon kannst du dich noch erinnern?«
»An diese hier bestimmt sehr lange…«
Er diktiert: »Die Erinnerung an Lauferlebnisse ist stark. Weil intensiv. Und gleichzeitig sind wir unserer Umgebung gegenüber offener und ausgeglichener. Freundliche Aufmerksamkeit, darum geht es. Mit freundlicher Aufmerksamkeit diese Gegend anzunehmen, wie sie ist. Ohne Wertung. Wir werden sie neu erfahren und mit wohlgemuten Assoziationen aufladen.« Gezeichnet: Herrchen. Vor Diktat verblödet.
»Der Arbeitsweg als Pfad zur Erleuchtung? So einen Humbug habe ich ja noch nie gehört.«
»Seneca sagte: ›Per aspera ad astra‹. Nur über raue Pfade gelangt man zu den Sternen. Und in unserem Fall heißt das, wir üben uns in der hohen Kunst, freundlich und aufmerksam in dem zu verweilen, was ist.«
»Bei den gewaltigen Mengen an Kohlendioxid, die morgen auf uns warten, sollten wir uns eher in der hohen Kunst der Photosynthese üben«, seufze ich. »Sauerstoff könnte nämlich knapp werden.«

Meditation am Maimorgen
Und so klingelt der Wecker am nächsten Morgen gut anderthalb Stunden früher als gewohnt. Und statt in den Anzug schlüpfen wir in eine Fjällräven Talak Shorts (wegen der vielen praktischen Taschen für Brieftasche und Schlüssel), Puma-Shirt und Gore-Softshelljacke.
Wann wir morgens aus der Haustür treten, ist sonst durch den Fahrplan der S-Bahn vorgegeben. Heute gibt es keinen Fahrplan, ›HVV‹ bedeutet heute nicht ›Hamburger Verkehrs-Verbund‹, sondern ›Herrchen verliert Verstand‹ oder meinetwegen auch ›heillos verrücktes Vorhaben‹. Jedenfalls, anstelle der Bahn nehmen wir die Beine in die Hand und laufen los.
»Meinst du, die Beine sind heute pünktlich?«, fragt er dämlich.
»Wenn sie nicht streiken.«
Es ist ein sonniger Maimorgen. Noch etwas kühl, aber voller Grün und Vogelgezwitscher. Nur die Kiefernwipfel strahlen rot im Licht der aufgehenden Sonne und werden gekrönt von dem fast vollen Mond direkt darüber. Ein hübscher Anblick. Wahrscheinlich der einzig hübsche heute. Denn hier, einige hundert Meter weit im Hamburger Staatsforst, gibt es noch intakte Natur. Aber wenige Kilometer weiter wird sich das dramatisch ändern.
Wir laufen durch unser Wohngebiet, das noch nicht wirklich erwacht ist. Die Chance wäre höher, Wildschweine zu sehen, die Mülltonnen leerfressen, als Anwohner. Anwohner generell, meine ich. Nicht etwa Anwohner, die Mülltonnen leerfressen.
Er läuft und testet seine Fähigkeiten zur freundlichen Aufmerksamkeit an Anblick und Geruch des frischen Blattgrüns um uns herum. Findet es herrlich und meint, das mit der Aufmerksamkeit und der Meditation und so wäre ja gar nicht so schwer.
Nach wenigen Minuten erreichten wir die Bundesstraße, die gleichzeitig das Ende des Waldes markiert. Er missachtet mit freundlicher Unaufmerksamkeit die rote Fußgängerampel und die Tatsache, dass ›Brumm‹ hier Vorfahrt hat vor ›Ommm‹. Meditation im Straßenverkehr ist vielleicht keine ganz glückliche Idee. Hoffentlich werden wir nicht von einem Opel Mantra überfahren.

Grafitti
Zum Glück müssen wir hier nur wenige Meter laufen, bevor wir uns in eine Unterführung versenken. Sie führt uns unter den Gleisen der S-Bahn hindurch.
Am tiefsten Punkt stören wir dort ein Grafitti-Sprayer. Eigentlich stören wir ihn nicht wirklich; ungerührt arbeitet der schwarzgekleidete Jugendliche weiter am ›c‹ von ›Fuc‹. Dunkle, lange Haare und allerlei Ketten und sonstiges Material baumeln an ihm herum.
Herrchen quillt über vor freundlichem Einfühlungsvermögen und säuselt: »Wem er mit diesem Kunstwerk wohl huldigen will? Heißt seine Liebste vielleicht ›Fuchsia‹?«. Nicht einmal er kann so bescheuert sein, ich führe seinen Realitätsverlust auf das Aerosol aus der Spraydose zurück.
»Willst du jetzt alles anhimmeln, was wir unterwegs so sehen?«, frage ich.
»Wieso?«
»Weil viele Dinge in deinem Umfeld mehr freundliche Aufmerksamkeit verdienen als diese Platzhalter Unterführung. Ich zum Beispiel.«
»Du hast doch einen hohen Teil meiner Aufmerksamkeit. Nur so habe ich dich an der Leine.«
»Danke, sehr aufmerksam«, maule ich. Nach einigen Minuten stutze dann aber doch. »Moment: Wolltest du mir gerade sagen, dass du mich beobachtest?«
»Na klar.«
»Was genau meinst du denn damit?«
Wir laufen mittlerweile durch Wohngegenden, die im Norden an ein Moor grenzen. Er geht nicht auf mich ein sondern sagt: »Obwohl wir ganz in der Nähe wohnen, sind wir hier noch nie gewesen. Ist doch eigentlich ganz nett hier.«
»Ich glaube nicht, dass diese 30er-Zone demnächst zum Weltkulturerbe ernannt wird«, entgegne ich. »Und wie war das jetzt mit dem Beobachten?«
»Ach, das findest du schon noch heraus. Jetzt stör mich nicht, ich möchte mich mit freundlicher Aufmerksamkeit auf den Moment konzentrierten.«
Jetzt stör mich nicht, jetzt stör mich nicht, was sind das denn für Töne? »Nein, ich will das jetzt wissen: Wieso beobachtest du mich?«
»Ich befasse mich gerne mit dir, du bist unterhaltsam. So, und jetzt gib Ruhe.«
Unterhaltsam?! Das kommt ja gleich nach ›voller Furunkel‹! Ich spüre, da steckt mehr dahinter als er mir sagen will und nehme mir vor, dieses Thema nicht aus den Augen zu verlieren.
Fürs Erste kommt uns in einer ruhigen Wohnstraße ein Mann entgegen, der einen Rottweiler an der Leine führt. Er schaut etwas grimmig drein, der Rottweiler. Sein Herrchen auch.
Meins arrangiert sein Gesicht zu seiner Interpretation eines herzensgütigen Grußes und versucht dabei so auszusehen wie der Dalai Lama, scheitert aber in jeder erdenklichen Hinsicht. Nicht mal der Rottweiler beachtet ihn.

Heiter im Staub
Eine Schotterstraße verschafft uns Zugang zum Moorgebiet. Hier laufen wir parallel zu einer Hauptverkehrsstraße in etwa dreihundert Metern Entfernung. Trotzdem ist es ruhig und man hört eher Bremsen summen als quietschen.
»Ach«, meint er, »die armen Leute, die da hinten fahren und gar nicht wissen, dass hier so ein hübsches Moor ist.«
»Ach«, antworte ich, »die armen Orientierungslosen, die hier laufen und ignorieren, dass da hinten eine S-Bahn ist.«
Es kommt von hinten ein Auto angefahren. Diese eine Fahrerin weiß wohl, dass hier so ein hübsches Moor ist und nutzt diese Kenntnis schamlos aus. Mit recht hoher Geschwindigkeit nagelt sie an uns vorbei und hinterlässt als freundliche Aufmerksamkeit Dieselgestank und jede Menge Staub. Den dürfen wir jetzt heiter und bewusst weginhalieren.
»So ein Mist!«, flucht er auffallend disharmonisch.
»Auf Asphalt wäre das nicht passiert.« Ich habe Recht, doch sein inneres Gleichgewicht bringe ich damit gerade nicht wieder ins Lot.
Er hustet noch, als wir bereits die T-Kreuzung erreichen, an der wir rechts Richtung Moorburg abbiegen müssen. Dort verläuft parallel zu einem Autobahnzubringer ein geteerter, aber für Kraftfahrzeuge gesperrter Weg.

Der Gemütsweiher
Entsprechend stabilisiert sich sein Gemütszustand wieder. So empfindet er den Anblick eines kleinen Teiches mit Inselchen und einem Schwan als idyllisch. Wolkenlos und klar spiegelt sich der Himmel auf der glatten Wasserfläche. Dass wir uns hier unmittelbar neben einer Autobahnauffahrt und quasi unter der A7 befinden, scheint ihn nicht weiter zu stören. Ein klarer See mit spiegelglatter Oberfläche gekrönt von blauem Himmel, meint er, sei sein Gemüt. Ein schönes Bild.
»Du bist dir schon klar darüber, dass das hier ein Absetzteich ist?«, sage ich. »Und dass sein Grund vollkommen klärschlammverseucht ist?«
»Und darf er deswegen keine heitere Ruhe ausstrahlen?«
»Ich bin sicher, er strahlt noch eine Menge Anderes aus.«

Blühende Industrielandschaften
Links von uns erstreckt sich eine flache, feuchte Spülfläche. Das hat den Vorteil, dass man den unverbauten Blick genießen kann auf ein riesiges Umspannwerk, das dort Akzente in Sachen Elektrosmog setzt. Zum Glück kann man Feldstärke nicht spüren und Flussdichte nicht hören. Sonst hätten wir hier besseren Tekkno-Beat als auf der Love-Parade. Wahrscheinlich kann man an dieser Stelle allein mit einer Kompassnadel im Glas Frozen Margaritas pürieren. Wie eine Luftschlangenmaschine schießt das Gebilde Hochspannungsleitungen in die Landschaft.
Er meint, es wäre beeindruckend, dass die Natur selbst unter diesen Bedingungen ihre regenerative Kraft entfalten kann, so dass hier Gräser, niedrigwachsende Pflanzen und einige Birken gedeihen.
»Das sind keine Birken«, korrigiere ich, »sondern entblätterte Pappeln, denen die Rinde abgefallen ist.«
Jedenfalls sind die Bedingungen für pflanzliches Gedeihen wirklich nicht besonders gut: Eine Spülfläche ist nichts weiter als eine Deponie für schwermetallhaltigen Elbschlick, der nach einer Elbvertiefung irgendwo hingepumpt werden muss. Über ein Netz von Gräben wird er entwässert, um ihn nach einigen Jahren bepflanzen zu können.
»Dahinten ist sogar Ackerland«, freut er sich. »Was für ein optimistisches Signal.«
»Es stimmt mich auch froh. Denn der Salat, der da wächst, dürfte so bleihaltig sein, dass du ihn auf 12 Volt aufladen und damit Starthilfe geben kannst.«
»O.k., genug davon. Konzentrieren wir uns auf den Moment. Sehen, hören, riechen, Empfindungen, Gedanken.«
Das ist einfach. Ich sehe, dass wir unter einer gewaltigen Hochspannungsleitung hindurch laufen. Links von uns steckt ein Stockentenerpel seinen Kopf in das kakaoklare Wasser eines Drainagegrabens. Oder bekommt ihn wegen verbleiter Entengrütze im Schnabel nicht mehr an die Oberfläche gezogen. Die Geräuschkulisse ist eine relativ einmalige Mischung aus Hochspannungsknistern, Vogelgezwitscher und Rasern auf der A7 im Rücken. Riechen tut es hier wie in einem zu langen Schnorchel. Meine Empfindungen sind ein Wechselbad aus Angst, Unglaube und genereller Verachtung für das Leben und meine Gedanken kreisen um Flucht, Ohnmacht und Mord. Kurz, ich komme mir vor wie ein Schiedsrichter bei einer Partie Sanatoriumsfußball. FC Amok-Saufen gegen Lokomotive Triebtat. Und wo ist da jetzt der Sinn?
»Und«, fragt er, »Spürst du schon, wie positiv wir diesem Gebiet plötzlich gegenüber stehen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Kommt wahrscheinlich noch.« Er bleibt zuversichtlich.

Umgang mit dem Übel
Wir kurven um ein Birkenwäldchen (es ist tatsächlich ein Birkenwäldchen) und laufen auf das Stadtteildörfchen Moorburg zu. Das heißt zum einen, dass wir auf eine Straße treffen, auf der Autos fahren dürfen. Zum anderen heißt es, dass sie es auch tun. Ein schwerer Kipplaster eines ortsansässigen Baustoffhändlers rumpelt uns entgegen. Weil es hier keinen Bürgersteig gibt und wir auf der linken Straßenseite laufen, brauchen wir uns gar nicht sehr angestrengt zu konzentrieren, um ihn in intensiv erleben zu dürfen.
»Urx«, hustet er. »Der hat offensichtlich keinen Rußpartikelfilter.«
Nanu, zieht da etwa eine kleine Welle von Irritation über die spiegelglatte Seeoberfläche seines freundlichen Gemüts?
Der Laster ist vorbei und gibt den Weg frei auf die nächsten 300 Meter der Straße. Drei baugleiche 38-Tonner des gleichen Unternehmens fahren dort in unsere Richtung, ein viertes biegt gerade weiter hinten um die Kurve. Um es kurz zu machen, eine Kolonne von insgesamt zehn LKWs donnert an uns vorbei und stürzt in seinen kristallklaren Gemütssee wie eine Horde verdauungskranker Elchbullen mit Darmdruck.
Ich habe Mitleid mit ihm und versuche ihn zu trösten. »Weißt du, dass Meditationskünstler in der Lage sind, ihre Konzentration so weit zu schärfen, dass sie bei einer Fernsehübertragung die Einzelbilder wahrnehmen können, aus denen die Sendung zusammengesetzt ist? Wenn wir jetzt ganz freundlich und aufmerksam sind, schaffen wir es vielleicht in den Dieselabgasen einzelne Komponenten wie Kohlenmonoxid, Stickstoffoxide, Schwefeldioxid und Schwefelsäure herauszuschmecken. Rußpartikel können wir ja schon.«
Fast habe ich ihn soweit, dass er mir ein herzhaftes ›Schnauze du Platzhalter!‹ entgegenbrüllt, doch er schafft es, sich wieder zu fangen. Das Gefühl, sein kleiner Gemütssee wäre gerade schwer kontaminiert worden, bleibt allerdings.
»Und jetzt beobachten wir ein wenig dieses Gefühl«, keucht er noch etwas atemlos vom dauernden Luftanhalten.
»Beobachten?«, frage ich. »So wie du mich beobachtest?«
»Genau so.«
»Und dann?«
»Dann benennen wir es mehrmals hintereinander.«
»So wie: ›So ein Platzhalter Platzhalter nochmal‹?«
»Eher wie: ›übel, übel‹. Und dann wird es sich abschwächen und verschwinden.«
»Und mit so einem lächerlichen Quatsch hast du mich an der Leine? Das ist ja ›übel, übel‹.«
»Wer redet denn hier von dir?«
»Ich. Du benennst mich also so lange als ›übel, übel‹, bis ich verschwinde?«
»Nein, natürlich nicht. Oder jedenfalls nicht mehr. Mittlerweile kann ich dich auch ohne solche Hilfsmittel ganz gut einschätzen.«
»Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?«
»Jetzt gib doch mal endlich Ruhe mit diesem Thema. Das lenkt mich ab.«
›Übel, übel‹ wiederholend läuft er also in Moorburg ein. Hoffentlich treffen wir keine Bewohner, die ihn hören können. Die Straße Moorburger Kirchdeich ist gesäumt von hübschen kleinen Villen mit gepflegten Gärten. Es gibt ein Gasthaus, eine Pension und einen Kinderspielplatz.

Klang der Hölle
Es ist hier, wo wir zum ersten Mal den Klang der Apokalypse hören. »Bang!« schallt es metallisch und so laut, dass wir den Boden unter uns zittern spüren.
»Was ist das denn?«, erschreckt er sich. Ich halte ihm zugute, dass er nicht ›laut, laut‹ murmelt und darauf wartet, dass das Geräusch verschwindet.
Es verschwindet auch nicht und wiederholt sich etwa alle fünf Sekunden. Was es ist, ist unklar, aber es klingt, als hätte Mutter Erde alle Schwermetalle der Spülfelder zu einem gigantischen Türklopfer zusammenlegiert, diesen an das Tor zur Welt gehängt und begehre nun Einlass um uns ihre Auffassung von ›übel, übel‹ darzulegen.
Dieser Höllenklang lässt die dörfliche Romantik Moorburgs im wahrsten Sinne wackeln. Und wir kommen ihm näher.
Wir laufen einen Deich hinauf und erreichen eine Hauptstraße, die uns zur Kattwykbrücke führt, einer Hubbrücke über die Süderelbe, die auch für Fußgänger zugänglich ist. Hier haben wir etwas mehr Ausblick und sehen die Quelle des infernalischen Hämmerns.
Ein bei Leistungs- und Kohlendioxid-Ausstoß führendes europäisches Energieunternehmen errichtet derzeit bei Moorburg ein neues Steinkohlekraftwerk. Dort verwandelt es natürliche Ressourcen in Strom und verpestete Ressourcen. Drei hohe Betonpfeiler mit quadratischem Querschnitt ragen in den Himmel, als entstünde hier eine Version von San Gimignano als Vorhof zur Unterwelt. Hier hat das »Bang!« seinen Ursprung. Was genau dieses Geräusch verursacht, ist weiterhin unklar.
»8,5 Millionen Tonnen Kohlendioxid wird dieses Kraftwerk im Jahr in die Luft pusten, wenn es fertiggestellt ist«, meint er. »Das ist mehr als der gesamte Straßenverkehr Hamburgs zusammen.«
»Müssen wir das jetzt wieder mit ›übel, übel‹ benennen?«
»Auf jeden Fall müssen wir es wohl oder übel hinnehmen. Wie vieles Andere auch. Um Hawaii herum gibt es am Grunde des Pazifiks einen riesigen Teppich von Plastikmüll, der so groß ist wie Zentraleuropa. Entsetzlich, oder? Und niemand will so richtig wissen, wie er entstanden ist.«
»Vielleicht ist das der Ort für Seebestattungen gewisser Ex-US-Präsidentengattinnen?«
»Och Marvin, das ist echt unmöglich.«
»Jetzt bin ich aber ›beleidigt, beleidigt‹.«
Auf dem Bürgersteig vor der Kattwykbrücke liegt ein Kaninchenkadaver. Offensichtliche Verletzungen weist er nicht auf. Die Todesursache ist ein Rätsel und spricht für unbekannte Gefahren, die hier lauern. Kein gutes Omen, wo wir jetzt ins Hamburger Hafengebiet vorstoßen. Eine Gegend, in der man nur etwas zu suchen hat, wenn man Containerschiff, Sattelzugmaschine, Tankwagen oder Güterzug ist. Läufer sind da eher Exoten.

Atemübungen im Dioxindampf
Wir entern dieses Areal über die Kattwykbrücke. Wenn ihr anfälliger Hubmechanismus nicht gerade gewartet wird oder in Betrieb ist um Schiffe hindurch zu lassen (was ab 8:00 Uhr morgens regelmäßig alle zwei Stunden passiert), können hier Autos und Güterzüge die Süderelbe überqueren. Und Fußgänger. Die Brücke ist frei. So ein Glück. Hätten wir sie hochgezogen vorgefunden, wäre er womöglich auf die Idee gekommen, die Elbe zu durchschwimmen.
Von der Brücke aus hat man einen ungehinderten Blick auf das Altenwerder Containerterminal, das laut Betreiber HHLA eines der modernsten der Welt ist. Mit 1.400 Metern ist die Kaimauer länger als die Reeperbahn, steht aber ebenso für die Erleichterung von Entladevorgängen bei gleichzeitiger Optimierung von Liegezeiten. Dahinter breitet sich genau ein Quadratkilometer Spülfläche für Warenströme aus. Damit ist das Containerterminal mehr als doppelt so groß wie der Vatikan, aber statt Apostel Paulus liegt hier der ehemalige Stadtteil Altenwerder begraben, der im Zuge der Hafenerweiterung unter die Reeder geriet. Heute befördern dort von 12.000 Transpondern gesteuerte, unbemannte ›Automatisch Geführte Fahrzeuge‹ Container auf sekundengenau berechneten Routen.
»Ein Kunstwerk der Logistik, ein Symbol für den ökonomischen Vortrieb«, schwärmt er.
»Was, das Terminal?«
»Nein, unsere Beine. Wir sind jetzt fast zehn Kilometer gelaufen, hauptsächlich auf Asphalt, aber sie sind noch frisch dabei.« Auch nicht verkehrt. Statt sich von der Umgebung beeinflussen zu lassen, delektiert er sich an sich selbst. »Wenn wir uns selbst glücklich schätzen, können wir auch unserer Umgebung gegenüber positiver eingestellt sein«, meint er dazu.
»Ich schätze mich auch glücklich«, seufze ich. »Denn schätzte ich mich nicht glücklich, steckten wir hier trotzdem metertief in der Platzhalter.«
An die Kattwykbrücke schließen sich 1.400 Meter tiefster Asphaltdschungel an, der hier Kattwykdamm heißt. Alle paar Sekunden dröhnen LKWs an uns vorbei. Links zollt ein Öllager Tribut an die Ästhetik des Güllebeckens. Zumindest optisch, vom Geruch her wäre das ein diffamierender Vergleich. Aus Sicht des Güllebeckens. Mag auch sein, dass die nahe Ölmühle noch die ein oder andere Aromanote beisteuert. Der Weinpapst Hugh Johnson würde sich vielleicht so ausdrücken: ›Komplexe Duftschattierungen voller exotischer Pikanz, nach organischen Feuchte-Nestern und saftiger Schweinemast-Abluft, gutes Säurespiel mit enorm langem Schwefelwasserstoff-Finale.‹
Rechts winden sich endlose Darmschlingen von Raffinerierohren, die am Ende langer Kaminschlote flammendes Methan in den Morgenhimmel dönern. Die Luft ist nicht zum Schneiden, aber löffeln könnte man sie wohl.
Und wir mittendrin am Meditieren.
Er konzentriert sich auf seinen Atem, oder, wie sein Buch ›Meditation für Anfänger‹ es formulieren würde, auf ›die Frische hinten an der Kehle‹ und murmelt dann: »Stell dir einfach vor, dass hier eine freundliche Seele für uns Räucherstäbchen angezündet hat.«
Räucherstäbchen? Mit der delikaten Dioxin-Duftnote? Dem belebenden Benzol-Bouquet? Das ist ja wohl das allerdämlichste Beispiel für Positivdenken, das ich jemals gehört habe. Denn über seinem elchbullengeschändeten Gemütssee hängen mittlerweile dicke, schwarze Rauchwolken.

Kali und Shiva
Am Ende des Kattwykdamms biegen wir links ab. Die Gegend wird nicht unbedingt besser. Offensichtlich orientiert sich der hiesige Bebauungsplan stilistisch an der Formensprache albanischer Bunkerkonstruktion. Hier kommen Güterzüge als weitere Lärm- und Qualmquellen hinzu.
»Durch solche Gegenden kommt man ja sonst eher selten«, meint er.
»Das ist in diesem Fall auch völlig berechtigt.«
»Wer oder was lässt sich hier wohl nieder?«, fragt er.
»Kali«, lese ich auf einem Schild.
»Kali?«, faselt er. »Die hinduistische Göttin des Todes und der Zerstörung? Im Industriegebiet? Marvin, wie tiefgründig! Du hast Recht. Kali ist die Gattin von Shiva, der männlichen Gottheit, beide sind das Elternpaar des Universums. Wie Leben und Tod, wie Shiva und Kali bilden Natur und Industriegebiet eine untrennbare Einheit. Ohne Zerstörung ist keine Erneuerung möglich. Hindus sehen Kali sogar als Beschützerin, als göttliche Mutter Kalima, die negative Kräfte und Ungerechtigkeit zerstört und den Geist befreit.«
»Was für ein bescheuertes Gefasel. Ich meine natürlich Kalium, die Gattin von Chlorid, beide sind das Elternpaar landwirtschaftlich genutzter Düngemittel. Links ist der Kalikai und riesige Kalispeicher. Und da vorne ein Schild der Kali-Transport-GmbH. Ich nehme mal an, das ist nicht Shivas Taxiservice.«
»Uh.«

LKWs
Er trottet einige Minuten lang schweigend weiter, bis seine Aufmerksamkeit von etwas in Anspruch genommen wird. »Nanu«, sagt er, »Ist das etwa das, was ich denke?«
»Ein ›Jucken im Schritt, Jucken im Schritt‹?«
»Nein, dieser graue Betonklotz dahinten. Ich glaube, das ist ein Getreidespeicher.«
Es ist ein Getreidespeicher.
»Inmitten dieser Benzindämpfe hier?« Er klingt eher entrüstet als freundlich aufmerksam.
»Da kriegt das Wort Puff-Reis doch gleich eine neue Bedeutung«, kalauere ich.
Gleich hinter diesem Duftreislager liegt eine weitere Brücke auf unserem Weg: Die Rethe-Hubbrücke. Ihr Name klingt ein wenig nach Großmutter aller Hubbrücken und genau so sieht sie auch aus. Wahrscheinlich werden die Zahnräder ihres Getriebes mit Corega Tabs gereinigt. Wir schaffen es ohne Gehhilfe hinüber.
Direkt dahinter schließt sich aus unerfindlichen Gründen eine laaaange Schlange LKWs an, die dort auf unserer Straßenseite stehen und sich keinen Millimeter fortbewegen. Wir laufen. Die LKW-Motoren auch. Die Luft ist schlechter als in einer vollbesetzten mazedonischen Kellerkneipe.
Aus aller Herren Ostblockländer haben sich die Fahrer hier zusammengefunden. Manche sind ausgestiegen und halten ein Schwätzchen. So wird der Bürgersteig zu einem Laufsteg für Brummifahrerfunktionsklamotten: Atmungsaktive Feinripp-Unterhemden mit großzügigen Ventilationsbereichen an Achsel und Bauchmitte, Trainingshosen, deren reflektierende Handflächen-Hygienezonen für höchsten Tragekomfort und funktionelles Design stehen und eine Körperbehaarung, die auch bei Minusgraden noch die optimale Balance zwischen Wetterschutz und Klimakomfort gewährleistet.
Wir verstehen zwar keine osteuropäischen Idiome, aber die beredte Körpersprache der Kollegen ist wieder einmal eindeutig. Ich denke mal, wir fallen in ihren Augen in die Kategorie Gefahrgut, ätzende Stoffe mit Reizwirkung.
Wie mit dem Auspufftopf gepudert laufen wir an der Parade vorbei. Nach einigen hundert Metern passieren wir die Grenzkontrollstelle am Neuhöfer Damm und betreten den Freihafen. Kein Zöllner beachtet uns oder hält uns gar an. Anscheinend fallen wir nicht in ihr Beuteschema. Muss ich mir merken. Könnte einmal nützlich werden.

Geistige Leere
An den Neuhöfer Damm schließt sich der zweispurige Rossdamm. Hier entlang führt kein Bürgersteig oder Radweg, dafür aber zwei mit schwerlastigem Straßenverkehr überbelastete Fahrspuren. Auf dieser Güterverkehrspipeline zu laufen wäre lebensgefährlich. Zum Glück versteckt sich daneben eine Parallelstraße, auf der wir laufen können. Sie dient als Zufahrt zu den Unternehmen, die sich hier aus nicht direkt ersichtlichen Gründen an den Ufern des Elbarms Reiherstieg angesiedelt haben.
Als wir fast bis an ihr Ende gekommen sind, sehen wir einen hohen Zaun, der sie vor uns komplett abriegelt. ›Platzhalter, Platzhalter‹, flucht er, bemerkt aber sofort seinen Fauxpas, begibt sich auf die meditative Metaebene und wiederholt stattdessen ›denken, denken‹. Gleich danach etwas hektischer ›planen, planen‹.
Und erreicht schließlich zum ersten Mal auf dieser Tour einen Zustand kompletter geistiger Leere. Man könnte es natürlich auch geistige Lähmung nennen.
Als wir näher heranlaufen, sehen wir zum Glück, dass auf der rechten Seite des Zauns eine Pforte geöffnet ist. Hier können wir hindurchschlüpfen.
Hinter der Pforte wurschteln wir uns unter Brücken und an einer Polizeistation vorbei und stehen schließlich wieder vor einem Zaun. Diesmal gibt es keine Pforte, sondern ein breites Tor. Das ist jedoch verschlossen. Hinter dem Zaun verlaufen eine Menge Gleise.
Was nun, fragt er sich.

Nach oben offene Maximalpulsskala
»Rechts von uns ist eine Unterführung. Die sollten wir nehmen«, biete ich an.
»Wer weiß, wo die hinführt.«
Er schaut nach rechts. Dort scheint eine Möglichkeit zu sein, durch den Zaun zu schlüpfen. Auch auf der gegenüberliegenden Seite könnte es möglich sein.
»Denk nicht mal dran«, sage ich. »Was ist, wenn ein Zug kommt?«
Er denkt nicht nur daran, er setzt seinen verkorksten Gedanken auch in die Tat um. Schlüpft rechts durch den Zaun und schaut sich vorsichtig nach Zügen um. »Gilt das Gebot der rechten Fahrspur eigentlich auch für Züge?«, fragt er.
»Das kann doch jetzt nicht wahr sein, oder?«, wimmere ich und ziehe mir die Bauchdecke über die Ohren.
Er marschiert über die Gleise. Rechts von uns ist eine uneinsichtige Kurve. Dahinter rumpelt etwas. Plötzlich zerreißt eine markerschütternde Höllenfanfare die Luft. 120 Dezibel sind für das menschliche Ohr die Schmerzgrenze. Das Signalhorn einer Diesellokomotive erreicht mit über 130 Dezibel in etwa den Schalldruck eines Pistolenschusses in Ohrnähe, ist nur wesentlich durchdringender. Nur wen dieses Geräusch jemals unmittelbar nah und unvermittelt ereilte, kann nachvollziehen, wie brutal der Übergang von freundlicher Aufmerksamkeit zu bösartiger Schockstarre wirklich sein kann.
Ein eisiger Hagelschauer von Adrenalin prasselt durch unseren Körper. Mein Leben zieht so schnell an mir vorbei, das ich nicht mehr hinterherkomme. An die nächsten Augenblicke kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Von einer Sekunde auf die andere hängen wir auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise in den Maschendrahtzaun gekrallt. Hinter uns rumpelt ein Güterzug vorbei. Irgendjemand scheint etwas zu rufen.
Sein Gemütsweiher ist, pardon, im Platzhalter. Diese tonnenschwere Güterlokomotive ist gewissermaßen von der Reiseflughöhe des Ozonlochs dort eingeschlagen, so dass der Morast bis in den Himmel spritzte. Nun ist die spiegelglatte Idylle ein geologisch instabiler Klärschlamm-Krater und strahlt die heitere Ruhe einer Slumkloake aus.
Er weiß gar nicht, was er zuerst benennen soll, Herzrasen, Bluthochdruck, Zittern, Hyperventilieren oder Kieferstarre. Sich jetzt auf seinen Atem zu konzentrieren wäre als versuche man, eine fliehende Wüstenspringmaus im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu halten.
Irgendwann zwängen wir uns durch den Zaun und laufen auf wackeligen Knien weiter. Würden wir einen Pulsgurt tragen, hätte die Suunto eben einen neuen Rekordwert beim Maximalpuls registriert. Jetzt ist es schon etwas besser, auch wenn unser Herzschlag immer noch Free Jazz improvisiert und unser EKG als Tageschart des DAX zum ›Hexensabbat‹ durchgehen könnte. Langsam quetscht sich das Blut wieder in die vom Schock verengten Kapillaren und schwemmt saures Laktat durch die Muskeln.
Wir sind auf dem Reiherdamm, der Zielgeraden zum Alten Elbtunnel. Von hier aus sieht man schon die Türme der Stadt, ein schöner Anblick.

Sinn und Unsinn
»War das eben eigentlich lebensgefährlich?«, fragt er.
»Aber hallo.«
»Ich glaube, ich habe mich noch nie so erschrocken.« Diesen Gedanken benennt er mit ›denken, denken‹, und wartet, dass er verschwindet.
Nach erschreckend kurzer Zeit ist sein üblicher Geisteszustand aus kindlicher Unbedarftheit wieder hergestellt. Das mag auch am Alten Elbtunnel liegen, der immer eine kleine Attraktion ist. Uniformierte Wärter weisen Autos, Radfahrer und Fußgänger in moderne Fahrstühle, mit denen auch wir die 24 Meter in die Tiefe fahren.
Der gute, Alte Elbtunnel eröffnete 1911, ist knapp 430 Meter lang und mit sechs Metern so hoch dimensioniert worden, dass eine Kutsche mit aufgestellter Peitsche hindurch passt. Unten ist es angenehm kühl, angenehm windstill und angenehm nostalgisch. Es gibt zwei Fahrspuren für Autos (beide sind gerade leer) und je Fahrspur zwei hohe Bürgersteige, die wegen ihrer hohen Kanten entlang der schmalen Fahrspur auch als Felgenkiller bekannt sind.
Dieses Problem kann uns egal sein. Er trabt hindurch und nimmt am Ende nicht den Fahrstuhl, sondern die Treppen. Oben sind wir an den St. Pauli Landungsbrücken und damit in einer anderen Welt. Hier gilt Promenieren statt Transportieren. Nobelherberge statt Ölspeicher. Büro statt Kalilager. Und es gibt hier Menschen, die entspannt zu Fuß unterwegs sind. Davon haben wir bisher nicht einen gesehen.
Bis ins Büro sind es jetzt noch zwei bis drei entspannte Kilometer in die Innenstadt. Wir treffen viele Pendler und er erkennt sich in ihnen wieder. Und auch wieder nicht. Denn wir haben uns zu Fuß durchgeschlagen.
»Bilde dir bloß nichts darauf ein«, warne ich. »Sonst willst du am Ende heute wirklich noch zurücklaufen.«
»Natürlich laufen wir zurück!«, ruft er.
Ich ertappe mich dabei, wie ich mit der Stirn wiederholt gegen die Darmwand schlage.
Als er in der firmeneigenen Dusche den warmen und kalten Schweiß des Industriepark-Landschaftslaufs abwäscht, ist das Gefühl nicht so frisch wie nach den morgendlichen Alsterrunden. Leider können wir nicht die Lungenbläschen abseifen und den Feinstaub ausspülen.
Mehrmals an diesem Tag diskutieren wir über den Sinn und Unsinn einer Wiederholung eines Trips durch die industrielle Unterwelt nach Hause. Schließlich meint er, dass wir ihn ja gar nicht wiederholen würden.
Eine winzige Sekunde lang schöpfe ich Hoffnung, dann übermannt mich die Vorahnung von Verzweiflung. Berechtigterweise, denn er schließt an: »Wir variieren die Strecke auf dem Rückweg ein wenig. Das schlimmste Stück zwischen Argentinienbrücke und Rethe-Hubbrücke lassen wir aus und machen stattdessen einen Umweg über Wilhelmsburg. Das ist zwar drei bis vier Kilometer länger, aber wir müssen dafür keine Gleise überqueren und an den LKW-Schlangen bei der Rethe-Hubbrücke vorbei.«
»Wer sagt, dass es dort besser sein wird?«
»Es wird zumindest anders.«
»Was reizt dich denn bloß an diesem stinkenden Freihafen?«
»Wir haben dort viel, viel mehr gesehen und erlebt als sonst auf dem Weg zur Arbeit. Was passiert an einem normalen Arbeitsmorgen denn schon Aufregendes? Wir könnten auf Spielzeug im dunklen Flur treten. Die S-Bahn könnte zwei Minuten Verspätung haben. Unser Lieblingssender könnte statt Musik irgendeine mittelmäßige Komik-Einlage spielen. Es könnte regnen. Ich meine, wir sind nie wirklich in der Gegenwart, von Genuss ganz zu schweigen, wir funktionieren, aber nehmen den Moment gar nicht richtig wahr. Heute Morgen aber, das war neu, das war exotisch, das war…«
»… Platzhalter«, ergänze ich. »Schädlich und gefährlich. Und dann dein weltfremdes Gefasel von wegen freundliche Anteilnahme und so. Das ist ja wohl der größte Quatsch.«
»Verbessern können wir uns immer. Es geht tatsächlich nicht darum, alles gut zu finden, sondern es überhaupt zu finden, zu erleben. Um Anteilnahme ohne Wertung. Und das müssen wir auf dem Rückweg besser machen.«
»Müssen tun wir das überhaupt nicht. Und schon gar nicht in der Nähe von Kalilägern, Brummitrassen und Kohlekraftwerken.«
»Aber wir können das doch nicht einfach so verdrängen. Wir nutzen ja die Waren, die dort umgeschlagen werden, das Benzin, den Strom, dann müssen wir uns auch mit den Konsequenzen dessen arrangieren.«
»Wenn man keine Wahl hat, nimmt man meistens die«, seufze ich und werde ignoriert.

Kreuzfahrtkapitän
Nach Feierabend schlüpfen wir also in unsere immer noch verschwitzten Laufklamotten und rennen los. Heute Abend ist es sonnig und viel wärmer als am Morgen.
Wir ernten einige mild neugierige Blicke von Pendlern in Anzügen und Business-Kostümen, fallen aber nicht wirklich auf. Einige schattige Straßenzüge später erklimmen wir die Treppen zur Elbpromenade und laufen in der Sonne. Hier herrscht ein Treiben, als feiere die Stadt jeden Tag Hafengeburtstag.
»Ist das nicht eine einmalige Stimmung hier?«, schwärmt er.
Recht hat er. Aber deswegen muss man ihn ja nicht unbedingt bestätigen. »Ach, wenn es doch auf der anderen Seite der Elbe auch so wäre«, seufze ich.
»Wieso? Einmalig ist es dort doch auch.«
»Stimmt auch wieder…«
»Joggenderweise hier entlang zu promenieren ist gar nicht so übel«, meint er.
›Übel, übel‹, wiederhole ich. Aber das hilft mir rein gar nichts. Habe ich ja gleich geahnt.
Weil oben am Alten Elbtunnel mit uns zusammen ein Fahrstuhl ankommt, nutzen wir ihn. Im Tunnel sind viele Fußgänger, Fahrräder und auch einige Autos unterwegs.
»Hier unten wirkt die Entfernung bis zum anderen Elbufer viel geringer als oben«, stellt er fest.
»Typisch. Kaum versenkst du dich in etwas, ist deine Wahrnehmung schon getrübt.«
Auf der anderen Seite nimmt er wieder die Treppen nach oben. Als wir das Eingangsgebäude der südlichen Elbseite verlassen, blendet uns eine gewaltige, weiße Wand: Ein Kreuzfahrtschiff der Royal Caribbean Cruise Line liegt unmittelbar neben uns im Dock der Werft Blohm & Voss. Die Fassade strahlt im Sonnenlicht.
Diese Art der Erleuchtung ist für ihn der Anlass für einen neuen bildhaften Vergleich. Der Gemütssee hat ja nicht so gut funktioniert, jetzt kommt er also auf die Idee: »Unser Bewusstsein ist wie der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes. Von Strömungen oder Wind getrieben oder aus eigenem Antrieb, er ist ständig im Fluss. Neue Gäste kommen an Bord, neue Routen und Häfen liegen voraus. Immer geht sie weiter, die Reise. Aber inmitten des Wandels steht er oben auf der Brücke in seiner Mitte.«
»Aha. Kann sein. Oder hängt in seiner Kabine rum und pichelt sich einen an.«
Er ignoriert mich. Während das Kopfsteinpflaster des Reiherdamms uns auf neue Routen zu optischen und olfaktorischen Tiefpunkten einstimmt, schwadroniert er weiter: »Sein Schiff heißt Voyager of the Seas. Entspannt und offen legt er ab zu neuen Ufern. Gewinn und Verlust, Segen und Fluch, Gutes und Schlimmes, all das gehört zu einer Reise dazu. Er weiß es. Und er steht dem nicht gleichgültig gegenüber, er freut sich darauf. Nimmt die Herausforderungen an. Und kümmert sich in kluger und den Umständen angepasster Weise um sein Schiff und die wichtigen Dinge, so wie wir uns um unseren Körper und die wichtigen Dinge kümmern.«
»Das ist ja wohl glatt gelogen. Sonst würden wir unseren Körper doch nicht durch dieses Bermuda-Dreieck quälen, oder?«
»Marvin, wir können nicht immer unberührt wie eine spiegelnde Seeoberfläche sein. Dieser Gedanke war schlicht falsch. Es gibt immer Dinge, die wir nicht aufhalten oder beeinflussen können, die in unsere Idylle einbrechen. Der Kapitän weiß, dass er Wind und Meeresströmungen nicht lenken kann. Aber er kann lernen mit ihnen umzugehen, vielleicht sogar mit ihnen zu treiben um so die Welt, in der er lebt und fährt, besser zu verstehen. Es ist ganz einfach. Wichtig ist nur die Fähigkeit für alles gegenwärtig zu sein.«

Test der Herzensgüte
Er schweigt zum Glück und versucht sich wieder an der freundlichen Aufmerksamkeit. So konzentriert ist er bei der Sache, dass er beinahe die Glasscheibe eines Bushäuschens übersieht, die hier weit auf den schmalen Bürgersteig ragt. Im letzten Moment kann er ausweichen, streift sie aber mit dem rechten Arm. Fast wäre er der erste Mensch gewesen, der vom Meditieren eine Gehirnerschütterung bekommen hätte.
»War das jetzt ein Lehrstück in der Fähigkeit gegenwärtig zu sein?«, stichele ich.
Wir nähern uns wieder dem Gleisgelände, wo der Herr Flottillenadmiral heute Morgen noch halbtot überm Zaun hing. Mit Rücksicht auf die Unversehrtheit unseres Kreuzfahrtschiff-Körpers riskieren wir hier keine weiteren Abenteuer und nehmen stattdessen die Argentinienbrücke. Ihre Fahrbahn zu überqueren ist allerdings kaum weniger gefährlich als unten auf den Gleisen. Mit dem Unterschied, dass die Laster und Autos gar nicht erst hupen, sondern gleich zügig draufhalten. Über ein paar Treppen und Schleichwege schaffen wir es unversehrt zum Zolldurchgang bei der Ernst-August-Schleuse.
Dahinter beginnt der Reiherstieg-Hauptdeich, ein grüner Streifen inmitten der Asphalt-Wüste.
Hier weidet tatsächlich eine Herde Schafe.
Die Idylle hat angesichts der ökologisch dubiosen Lage einen etwas faden Beigeschmack. Nun ja, es muss eben nicht immer Kobe-Beef sein, manchmal geht auch Diesel-Hammel. Und den hier produzierten ›Kalisalpeta‹-Feta könnte man wegen des hohen Molybdän-Anteils notfalls direkt dem Stahlveredelungsprozess zuführen.
»Mehr Anteilnahme bitte«, doziert er. »Durch Spott distanzierst du dich nur von den Dingen.«
»Genau. Was bleibt mir denn sonst übrig?«
»Versuch es doch mal mit Herzensgüte.«
Danke, das überlasse ich gerne ihm. Allein schon wegen des potenziell hohen Spottwertes. Schließlich verstand er unter Herzensgüte bis vor kurzem nur Dinge wie maximale Sauerstoffaufnahme und niedriger Ruhepuls. Und nur, weil er sich eben selbst ein Ad-Hoc-Plantschbecken-Kapitänspatent verliehen hat, wird er nicht von einer Sekunde auf die andere zum Gesandten Buddhas. Schon gar nicht im Freihafen Hamburgs.
Hier auf der Wilhelmsburger Elbinsel, auf der wir gerade laufen, soll einmal ein aufstrebender Stadtteil entstehen. Bislang haben sich schon Containerhalden, Verladerampen und Hundehaufen angesiedelt. Wir laufen am Fuße des Deiches auf der rechten Straßenseite auf dem Bürgersteig, obwohl dies wegen des enormen Aufkommens von LKW-Abgasen hohe Anforderungen an die Herzensgüte stellt. Als ein entgegenkommender Brummifahrer uns einen brennenden Zigarettenstummel vor die Füße wirft, wechseln wir schließlich nach oben auf den Deich. Hier ist der Weg allerdings etwas holperiger. Hundehalter führen ihre Liebsten offensichtlich sehr gerne hier oben spazieren, wie die vielen Tretminen beweisen. Also nehmen wir die nächste Treppe zurück auf den Bürgersteig.
So kommen wir an eine Kreuzung. Gutes Timing, die Fußgängerampel springt gerade auf Grün. Von rechts braust ein Tanklaster heran, viel zu schnell um an seiner roten Ampel noch anhalten zu können. Aber hupen geht noch. Mit lautem Getöse rast er um Haaresbreite vor unseren Fußspitzen vorbei. Eine Dieselwolke weht uns durch die aufgestellten Nackenhaare. 

***

Weiter geht es in der Druckfassung von ES läuft. Die ist im Buchhandel erhältlich - oder bei mir.

8 Kommentare:

  1. Hätte nicht gedacht, dass man eine interessante Story aus so einer Strecke machen kann. Aber irgendwie ist es Dir gelungen. Gute Lacher! Trotzdem ist das die einzige Deiner Routen, die ich nicht mals selbst laufen möchte.

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  2. Schön. Du hast gut lachen. Gut für dich. Ich wollte KEINE der Strecken laufen.

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  3. Da habe ich es ja richtig gut - mein Laufweg zur Arbeit (wie Du siehst, kenne ich das) beträgt ca. 19 km, von denen nur 6,5 km richtig ungemütlich sind (3,5 km zwischen Industriemauer und vierspuriger Straße, 3 mitten durch ein Industriegebiet, über eine Brücke über den HBF und dann bin ich auch schon fast da). Der Rest führt teilweise richtig lauschig am Main entlang.
    Also absolut laufbar. 2x am Tag habe ich das noch nicht gemacht. Wäre natürlich auch mal eine Herausforderung. Ich glaube, ich nehme mir das mal vor.

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  4. Und, ist dir der Arbeitsweg durchs Laufen ans Herz gewachsen? Selbst ich würde zugeben, dass es Schlimmeres gibt, als in der Morgendämmerung von Sachsenhausen aus über die Untermainbrücke oder auch den Eisernen Steg nach FRA ein- und auf seine Skyline zulaufen...

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  5. Ich mag meine Strecke! Im Moment habe ich lange Läufe aufs Wochenende verlegt und laufe 2x die Woche eine gute Hälfte vom Arbeitsweg. Dafür laufe ich bei jedem Wetter. Im Frühjahr kommt auch wieder die ganze Strecke dran. Zur Zeit nutze ich das, um ein bißchen Geschwindigkeit zu trainieren - denn ich kann zwar lange laufen und dabei auch Höhenmeter machen, bin aber langsam.
    Die 3,5 km lange Mauer kann ich auch auf der südlichen Mainseite weitläufig umlaufen.
    Mit dem Weg habe ich wirklich Glück gehabt. Morgen abend ist wieder ein knapp 11 km-Stück dran.

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  6. Viel Spaß auf deinen Haus- und Teststrecken, mögen sie die Ouvertüre für viele unvergleichliche Laufabenteuer sein. Uh, habe ich das gerade wirklich gesagt??

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  7. EINMALIG... schön geschrieben ... ich hatte eine Menge Spaß und das Fazit ist toll!

    Gruß
    Soulrunner der jeden Tag zur Arbeit läuft!!!

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  8. Jeden Tag, nicht schlecht. Wie lang ist die Strecke?

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