Dienstag

Thy: Der letzte Schrei

Sieht nett aus, aber macht dich fertig: Der Strand in Thy
Thy liegt im Norden Dänemarks. Dort erlebten wir den schlimmsten Strandlauf der Welt.

Wir stehen Ecke Tunvej / Nordsøvej in Nørre Vorupør, einer dänischen Gemeinde, die nur Eingeweihten aussprechlich und bekannt ist.
Immerhin ist diese Gegend, der Küstenteil der dänischen Landesregion Thy, seit kurzem Nationalpark. Aber statt Old Faithful gibt es hier nur Det Gamle Fabrik Rhabarbermarmelade, statt auf Großwildsafari geht man beim Bäcker Marzipanröllchen kaufen, die Going-to-the-Sun-Road heißt hier Hawblink und der Zabriskie Point Bøgsted Rende.
Um 5:30 Uhr klingelte der Wecker heute ungewohnt früh. Wir haben gerade die Morgentoilette und ein rudimentäres Frühstück hinter uns.
»Schau mal Marvin«, flötet er wie Sterntaler im Nachthemd.
»Warum?«, gähne ich. Welch hirnloses Unterfangen im Urlaub um diese Zeit aufzustehen.
»Ich muss dir etwas zeigen. Und guck nicht so gequält, das hier wird dir gefallen!« Er steht in der Küche unseres dänischen Ferienhauses und schaut nach Süden aus dem Fenster. K.u.K. schlafen noch in ihren gemütlichen Ferienhausbetten. Wie gerne würde ich mich dazulegen. Auf das weiche Kopfkissen. Unter die warme Daunendecke. »Das sind Wolken, oder?«, flüstert er andächtig.
Damit meint er grotesk aufgetürmte Cumulus-Bollwerke, die wie die schwarzen Reiter der Apokalypse über den Himmel fegen. Ihre Bedrohlichkeit wird dadurch verstärkt, dass die Morgendämmerung gerade erst einsetzt und die Wolkenarmee aussehen lässt wie eine finstere Drohkulisse vor nachtgrauem Himmel.
Dann fangen seine Augen an zu funkeln: »Genau das brauchen wir. Denn heute testen wir, wie lange wir laufen können.«
»Oh nein…« Ich muss feststellen, dass meine Stimmung tatsächlich noch tiefer sinken kann. »Das ist jetzt wahrscheinlich dein Ernst, oder?«
»Beziehungsweise wollen.«
»Wollen. Was wollen wir?«
»Wir laufen so lange, bis wir nicht mehr können. Oder wollen.«
»Aber ich will doch gar nicht!«, sage ich müde.

Verspannungen
Er ignoriert mich und tritt hinaus vor die Tür. Und wir stehen am Anfang eines sinnbefreiten und zudem gefährlich unpräzise geplanten Vorhabens. Das ist mehr als deprimierend, das ist schlichtweg beängstigend.
»Woran willst du denn überhaupt erkennen, wann es denn so genug sein wird mit dem Laufen?«, frage ich zaghaft.
»Wir werden es schon merken, wenn wir soweit sind.«
»Ich wäre dann eigentlich jetzt schon soweit. Ich fühle mich gar nicht wohl. Schon wegen der Kälte.« Er trägt ein schwarzes Puma ›USP Ultralight‹ T-Shirt (78 Gramm…), seine Küchenwaagenhose und in seinem Deuter Rucksack Wasser, Pulli, Poncho und Wegzehrung. Das ist bei den Septembertemperaturen von knapp über 10 Grad nicht sehr viel. Ich fühle mich so mollig wie eine Scholle, wie sie beim Fischhändler hier im Ort auf Eis liegt. Die wenigen Schritte vor der Haustür haben mir schon gereicht.
»Ja, das Wetter verspricht, interessant zu werden. Aber gleich wird uns warm.«
Das vermag mich nicht wirklich zu beruhigen.
An das ›Tunvej‹-Schild gelehnt macht er einige Dehnübungen. Seit einer Woche verspürt er ein leichtes Ziehen in der Leiste, das durch das Laufen zu einem etwas deutlicheren Ziehen wird. Ausführliches Dehnen soll da Abhilfe schaffen.
»Oh, das fühlt sich gar nicht gut an in der Leiste! Wir sollten abbrechen«, rate ich. »Wozu eine ernsthafte Verletzung riskieren? Kurieren wir uns lieber aus. Bei frischem Kaffee, Brötchen, süßen Jødekager und Melba-Joghurt. Diese Scheibe trockenes Brot mit Salz eben war doch kein richtiges Frühstück.«
»Ah, Marvin, findest du die Luft heute Morgen nicht auch besonders klar?« Ihm bläst der Südwestwind ins Gesicht. »Das genehmigen wir uns jetzt. Keine Jødekager. Auf in die ungebändigte Natur!«
Mit solchen Bemerkungen macht er mir wirklich ein wenig Angst. Insbesondere, weil er sie ernst zu meinen scheint. Er ist tatsächlich freudig erregt darüber in diesen wettergepeitschten Septembermorgen hineinlaufen zu dürfen. Ich ziehe das erste Mal Bilanz. Auf der Passivseite stehen Kälte, Wind, herannahende Schauer, Schlafdefizite und orthopädische Probleme in der Leiste. Auf der Aktivseite gar nichts bis auf seine esoterischen Naturschwärmereien. Unterm Strich heißt das: Ich habe genug. Wir sollten abbrechen und umkehren.
Eine Windbö zerzaust seine Haare. »Und los!«, ruft er. Und läuft los. Und ich – ach, egal.

Richtung Hafen
Durch die Morgendämmerung führen unsere ersten Laufschritte in Richtung des Ortskerns von Nørre Vorupør. Der besteht aus kleinen, eingeschossigen Steinhäusern mit überwiegend weiß getünchten Mauern und kajütenähnlichen Proportionen. Über den Haustüren künden Jahreszahlen davon, dass sich hier bereits seit Anfang 1900 die ortsansässigen Fischer eine Zuflucht vor Sturm und Kälte eingerichtet haben. Noch immer leben einige der Einwohner vom Fischfang, aber viele von ihnen versuchen mittlerweile sich mit Touristen zu arrangieren. Dafür, dass ihre Dienstleistung seit vielen Generationen aus Ködern, Zupacken, lebendig Ausweiden und in Tonnen Werfen bestand, machen sie ihre Sache gar nicht so schlecht. Die lokalen touristischen Attraktionen haben viele Facetten. Zwar kann man hier keinen Wet-T-Shirt-Contest erleben, aber seine eigenen Kerzen ziehen. Und statt mit Caipirinha im Beach-Club prostet man sich mit Tuborg Pilsener an Picknicktischen beim Strandimbiss zu. Keine wummernden Discothekenbässe, sondern Nordseewellen dröhnen in der Nacht.
Um den Ortskern herum entstanden Ferienhäuser entlang geschotterter Straßen, die überwiegend nach Fischgattungen benannt und auch grätengleich angelegt sind. Eine Kirche, zwei Supermärkte und eine Automatentankstelle bilden die Schwerpunkte der urbanen Infrastruktur. Mal abgesehen vom ›Hafen‹, der eigentlichen Attraktion des Ortes. Er ist nichts weiter als eine Sandbucht, in der pastellblaue, holzgefertigte Fischerboote, von Traktoren und einer Winde auf den Strand gezogen, im Sand sitzen. So idyllisch wirkt es, als brüteten sie dort pastellblaue Holzeier aus. Wie die Schiffe zieht es auch viele Besucher regelmäßig hierher, um dem Kultcharakter Vorupørs zu huldigen.
Für Herrchen ist in erster Linie reizvoll, dass es hier raue See, endlose Strände, eine weiten Prärie aus Dünengras und süße Marzipanröllchen gibt.
Wir laufen an Ferienhütten vorbei, deren Fenster noch dunkel und beschlagen sind, lediglich in einem Toilettenfenster brennt Licht. Nur dringende Bedürfnisse treiben Menschen hier um diese Uhrzeit aus dem Bett, soviel ist klar. Auf den Straßen ist es ruhig. Noch ruhiger als tagsüber. Also sehr ruhig.

Warum?
»Wie kommt man eigentlich auf eine so sinnfreie Idee auszutesten, wie lange man laufen kann?«, frage ich.
»Oder möchte«, ergänzt er.
»Noch dämlicher«, seufze ich. »Warum probieren wir zum Beispiel nicht einfach mal, wie lange wir ausschlafen können?«.
»Hm«, macht er nur und läuft. Vorhin war er noch etwas unausgeschlafen. Jetzt nicht mehr.
»Es gibt mindestens zehntausend Dinge, die schöner sind als das hier«, sage ich.
Er schätzt, aus seiner Sicht wären es sogar dreißig- bis vierzigtausend.
»Sag nicht, du kommst jetzt zur Einsicht. Dann sollten wir uns jetzt vielleicht um diese dreißig- bis vierzigtausend Dinge kümmern. «
»Genau das tun wir jetzt. Denn mit jedem weiteren Schritt wird es schöner. Und so viele haben wir vielleicht noch vor uns.«
In Bezug auf mein zartes Pflänzchen Hoffnung hat er wirklich keinen grünen Daumen. Ich verkrieche mich in Richtung Gallenblase und bestelle einen doppelten Magenbitter. ›Wir laufen, so lange wir wollen‹, grummele ich in mich hinein. ›Von wegen!‹

Im Ort
Indessen wehen die Regenwolken durch das dämmerige Dunkel, so tief, dass man sie fast greifen kann. Keine Erhebung, kein Wald kann hier Sturm oder Regen bremsen. Selbst die Ferienhütten kauern sich flach in die Landschaft um Schutz vor dem Wetter zu suchen.
Im Zentrum des Ortes, zwischen Kirche und Kaufmannsladen, steht ein Däne neben einem Lieferwagen und wirft uns einen langen Blick zu. Das Schöne an Körpersprache ist, dass man sie überall ohne Übersetzung verstehen kann. Er hält uns ganz offensichtlich für komplett bescheuert.
Nørre Vorupør hat einen südlichen Ortsteil. Der heißt Sønder Vorupør und besteht aus einer Handvoll Wohnhäusern, einigen kleinwüchsigen Ferienhütten, die sich schüchtern zwischen niedrigen Latschenkiefern verstecken, einem Gerümpelhaufen mit eigener Hausnummer sowie dem regionalen Einkaufszentrum, nämlich einem offenen und unbemannten Holzkasten am Pfahl, in dem je nach Saison Honig, Heidelbeeren oder Wattwürmer feilgeboten werden.
Die Straße ist teilweise noch nass von den Schauern der Nacht. Kein Auto, kein Fußgänger, nicht mal ein nachtaktiver Freizeitalkoholiker ist hier unterwegs. Das einzige Geräusch sind seine Schritte auf dem Asphalt. Er kommt langsam auf Betriebstemperatur und findet seinen Rhythmus. »Ist das nicht herrlich?«, sagt er. »Diese Luft, diese Weite? Laufen sollte ein menschliches Grundrecht sein.«
»Wenn man die Verfassung dafür hat«, murmele ich.
»Hey, das war ja fast geistreich.«
»Was genau willst du eigentlich?«, frage ich.
»Nun…«, sagt er. »In erster Linie laufen.«
»Schon klar. Aber was noch? Willst du damit trainieren?«
»Darauf kommt es jetzt nicht wirklich an«, sagt er.
»Willst du dich damit auf einen Laufwettkampf vorbereiten?«
»Bestimmt nicht!«, sagt er.
»Willst du Fett verbrennen?«
»Nicht mehr«, sagt er.
Rechts von uns liegt der Friedhof von Vorupør hinter einer weißen Mauer. »Willst du deinen inneren Schweinehund erledigen?«, hauche ich.
»Niemals«, sagt er mit Nachdruck. »Ich brauche dich, weil ich dich…«
»Was!? Willst!? Du!? Denn!?«, rufe ich entnervt dazwischen.
»Bist du gar nicht neugierig, wie lange wir durchhalten werden?«, fragt er mit Kulleraugen.
»Nein. Das bin ich wirklich ganz und gar nicht! Und schon gar nicht, wenn wir es hier bis zum Äußersten treiben. Ich kann nicht verstehen, wie man sich so etwas im Namen der Neugier antun kann. Oder ist da etwa noch etwas Anderes?«
Er schweigt. Die Frage bleibt im Raum stehen. Schließlich sagt er: »Vielleicht. Vielleicht ist es etwas irgendwo in uns. Wenn wir in uns gehen, werden wir es finden.«
Was für ein Allerweltsgelaber. »Ich bin schon in dir«, antworte ich. »Und alles, was ich hier sehe, sind die ausgetretenen Pfade, auf denen ich versucht habe dich zur Räson zu bringen. Also, was nur ist es, was du willst?«

Letzte Meter Asphalt
Wir laufen auf einer Teerstraße an der Grenze zum Dünengebiet, wo Wellen von Sandhafer im Wind wogen. Die Grashalme stecken ihr Leben lang im kargen Sand fest, können nicht weg und werden von dem, was da kommt, hin und her geweht. Ich weiß wie ihr euch fühlt, Jungs. Ich bin wie ihr. Ich sehe mich in euch.
Hinter Sønder Vorupør biegen wir auf die Straße in den nächsten Ort Stenbjerg ein. Die ist schon sehr viel schmaler und älter. Er schwärmt: »Asphalt, Dünen, Himmel, alles ist so weichgezeichnet und pastellig, als wäre dies der Ort wo Lichtstrahlen hinkommen, wenn sie träumen.«
Erwähnte ich bereits, dass sich Läufer häufig damit beweihräuchern zu glauben, dass ihnen beim Laufen die besten Gedanken kämen? Wer hat schon einmal davon gehört, dass bei oder nach einem Marathon bahnbrechende intellektuelle Leistungen vollbracht worden wären? Wo hätten solche Gedanken zwischen tiefgreifenden Fragen wie ›noch weit?‹, ›da schon wieder Aua?‹ und ›Toilette wo?‹ überhaupt Platz? Im Hirn einer dösenden Seegurke finden sich respektierlichere Impulse als im gesamten Gedankenmüll eines durchschnittlichen Stadtmarathons.
Er atmet ein paar Mal tief ein und aus und wiederholt, dass die Lunge kaum jemals mit einer derart klaren und belebenden Luft verwöhnt worden wäre.
Ich entgegne, dass ich auch gerne verwöhnt würde.
Er schlägt vor, ich könne ja mal ein Wohlsein-Wochenende auf den Langerhans-Inselzellen beantragen und mich vom Zwölffingerdarm massieren lassen.
Im nächsten Ort, Stenbjerg, treffen wir keine Menschenseele. Wir passieren nacheinander Ferienhütten, ein Restaurant, Wohnhäuser und einen Campingplatz. Nichts bewegt sich hier, als hätte man die Zeit angehalten. Dem Innendekor des Restaurants nach zu urteilen muss das so gegen 1972 passiert sein. Nach wenigen Minuten haben wir den Ort durchquert.

Redningsvej
An seinem Südende biegen wir auf einen Wanderpfad ein, der Redningsvej heißt und heute ein Bestandteil eines Wanderwegs namens Vestkyststien durch den Nationalpark ist. Früher haben die Küstenbewohner diesen Weg genutzt um die Besatzung gestrandeter Schiffe zu retten. Heute läuft hier nur noch, wer selber der Rettung bedarf. Der Weg ist mit kniehohen, roten Pfählen markiert, auf die das Piktogramm eines Rettungsbootes geschraubt ist. Er verläuft zwischen Dünengürtel und der Stenbjerg Klitplantage, einer Dünenpflanzung aus Bergfichten, die um das Jahr 1900 aus den Alpen importiert wurden um Sandverwehungen zu stoppen. Eine Art Echthaartransplantation für Landglatzen, wenn man so will.
Nun haben wir auch das letzte Haus, die letzte Straßenlaterne und das letzte Stückchen Asphalt hinter uns gelassen. Der Pfad ist eine sandige Spur durch Gras und Heide. Die Frage, warum es ihn überhaupt gibt, ist so müßig und rätselhaft wie die Frage, warum wir hier laufen.
»Es gibt ihn, damit Menschen von A nach B gehen können.«
»Aber warum von A nach B? Warum nicht von B nach C? Oder gleich in A bleiben?«
»Du hast es erfasst. Besser hätte ich es auch nicht sagen können.«
»Dass wir hätten zuhause bleiben sollen?«
Ein Windstoß fegt durch die Kiefern links und lässt sie rascheln. Die Farbe des Himmels verändert sich. In wenigen Minuten wird die Sonne aufgehen.
»Nein. Wir haben hier die grenzenlose Freiheit zu laufen, wohin und wie lange wir wollen.«
»Ich will nach Hause und das sofort.«
»Das ist die Mindermeinung.«
»Mit Kollege Leiste zusammen sind wir schon zwei Mindermeinungen gegen eine Mehrheitsmeinung.«
»Stellt euch nicht so an.«
Das Störgefühl in der Leiste ist zwar weitgehend unterdrückt, bei seitlichen Ausweichmanövern, zum Beispiel zur Umgehung zahlreicher Pfützen (in dieser Gegend ist sogar das Wasser in den Pfützen so klar wie Trinkwasser), macht es sich jedoch deutlich bemerkbar und zieht bis in die Innenseite der Schenkel.

Sonnenaufgang
Bald haben wir die Pflanzung links hinter uns gelassen; nun laufen wir durch eine blühende Dünenheidelandschaft, die so weit und wellig ist wie das Meer bei Windstärke drei. In diesem Moment geht links von uns die Sonne über dem Heidehorizont auf. Sie taucht Dünen und Wolken in ein Orchester von Farbtönen, ein bombastisches Szenario.
Er bleibt stehen und nimmt sich die Freiheit Richtung Sonnenaufgang zu pinkeln.
Jetzt, wo wir uns nicht mehr vorwärts bewegen und es – fast – still um uns ist, werden die Geräusche der Natur deutlicher. Leise raschelt der Wind, ganz entfernt rauschen die Nordseewellen. So unaufdringlich und ruhig ist es, dass man unwillkürlich die Ohren spitzt, ob der Nacktschnecke da an der Regenpfütze vielleicht nach einem Schluck Wasser ein Rülpser entfährt.
»Warum bleiben wir nicht einfach stehen und genießen die Ruhe?«, frage ich und werde nicht beachtet.
Er läuft wieder los. Atem und Fahrtwind übertönen wieder die friedliche Akustik der Dünenheide.

Regenschauer
Einen Vorteil hat es in einer Gegend zu laufen, die so weitläufig und flach ist. Man sieht die Regenschauer herannahen, bevor sie uns eine Minute später mit voller Wucht treffen. Eine Grundregel dabei scheint zu sein: Je schräger die Regenschlieren zwischen Wolke und Boden, desto erbarmungsloser der Angriff. In diesem Fall sind die Schlieren mächtig schräg und erwischen uns frontal von vorne. Mit dem plötzlichen Geprassel fallen Windböen über uns her. Es wird gefühlte zehn Grad kälter.
Ich bin erleichtert. Unter diesen Wetterbedingungen ist das Weiterlaufen sinnlos. »Brrr, ist das kalt«, rufe ich. »Das ist ja schrecklich! Lass’ uns sofort umkehren, bevor wir uns hier den Tod holen!«
Was macht er? Murmelt: »Zeit für das beste Funktionsshirt der Welt«, hält kurz an, setzt den Rucksack ab und zieht uns sein Puma-Shirt aus. Was kommt nun?
Nichts. Er setzt den Rucksack wieder auf und läuft mit freiem Oberkörper weiter.
»Du…!«, schlottere ich sprachlos in der kalten Dusche. Nicht einmal ich hätte gedacht, dass er so entsetzliche Neigungen verspürt.
»Herrlich, nicht? Wie das prickelt.«
Es prickelt so sehr, dass sogar seine gemäß Herstellerangaben wasserabweisende Rono-Hose in Sekunden durchweicht ist. Er grunzt wohlig wie eine beschmuste Seekuh.
»Das gefällt dir also?«, frage ich.
»Ja!«, ruft er.
Nach wenigen Minuten ist der Schauer vorbei. Schon wieder scheint die Sonne. »Wow, das war elementar«, meint er und glaubt, dass in unseren Adern gerade Champagner fließt.
»Du bist ja völlig high«, meine ich.
»Stimmt«, kichert er unbedarft.
»Dann können wir ja umkehren.«
»Wir machen weiter. Ist doch herrlich!«

Dünen
Die Sonne scheint wieder. Unser Pfad führt durch die Dünenheide über zusammengedrückte Pflanzenfasern, die unter den Sohlen federn. Dadurch hat er das Gefühl, als würde er mehr fliegen als laufen. Als schwebe er auf einer Wolkendecke aus Heide, Sandhafer und Sand.
Geologisch betrachtet bewegen wir uns durch ein von Meer und Wind geformtes Eiszeit-Geschiebe, das weit mehr von Naturgewalten geprägt ist als vom Menschen. Hier präsentieren sich die vier Elemente als viel Luft und Wasser sowie zu Sand zerriebene Erde. Es fehlt das Feuer, vielleicht wirkt diese Landschaft deswegen so entspannend. »Hier wirkt menschliches Streben unzivilisiert«, findet er. »Deplaziert. Als würde es sich darauf beschränken, kuschelige Komfortzonen einzurichten, in die man sich zurückziehen kann. Nur wir sind hier draußen. Im Freien.«
»Du rebellischer Revoluzzer, du.«
»Ja, ein schöner Gedanke, nicht?«
»Sehe ich das richtig? Sind wir gerade wieder in der Pubertät angekommen?«
Er schwärmt von Licht und Farben und von der Freude, leichten Schrittes dahinzutraben.
Was kann ich nur tun um ihn zur Räson zu bringen? Mir fällt nichts ein. Stattdessen zähle ich Schritte. Wie lange dauert es bis vierzigtausend zu zählen? Bei drei Schritten pro Sekunde über dreieinhalb Stunden. Deprimiert gebe ich auf. Wann endlich ist das hier vorbei?

Lyngby
Indes erreichen wir etwas, das ich in Ermangelung einer geeigneteren Bezeichnung Dorf nennen muss, und das Lyngby heißt. Wörtlich übersetzt bedeutet Lyngby soviel wie ›Erikadorf‹, wobei mit ›Erika‹ die botanische Bezeichnung der Gattung Heidekraut gemeint ist. Sinnbildlich bedeutet der Lyngby eher ›Heideruh‹, und selbst das wäre noch eine Untertreibung. Lyngby kommt konsequent ohne Lautstärkequellen wie Geschäfte, öffentlicher Nahverkehr, Kirchtürme, Schulen aus. Und sogar ohne Selbstlaute. Mit einer Nord-Süd-Ausrichtung von etwa vier Kilometern ist Lyngby flächenmäßig gesehen ausgedehnter als die meisten anderen Siedlungsstrukturen an der dänischen Nordseeküste. Auf den ersten zwei Kilometern entdecken wir allerdings nur ganz wenige Ferienhäuser, aus der Ferne zu erkennen an Rauchwolken aus dem Schornstein. Insgesamt gibt es kaum mehr Behausungen als Sextouristen im Vatikan. Hm. Oder jedenfalls Bikini. Sextouristen auf dem Bikini-Atoll, meine ich. Nicht Bikinis im Vatikan. Hach, diese Gegend macht mich völlig kirre. Wir waren bei Bikini. Äh, Lyngby. Also Erikas Dorf. Wo Erika in den Ferien haust und bei der Gattung Kraut… Rauchwolken… Im Bikini… Kraut raucht. Aus dem Vatikan. Mit konsequent botanischen Sextouristen.
»Wahrscheinlich ein reizvoller Ort für Partys«, meint er, während wir auf einem Feldweg laufen, der mit einer Schicht loser Kieselsteine in zwei Reifenspuren PKW-Tauglichkeit vortäuscht. Auf ihm erreicht man auch diese abgeschiedenen Ferienhäuser.
Partys? In dieser Rentnergegend, in der die wesentlichen Attraktionen Wind, Wolken, Sonne, Licht und im Herbst der ein oder andere Speisepilz sind? »Ich sehe sie vor mir«, antworte ich. »Nämlich Tupperpartys für Inkontinenzhosen. Die verkauft man hier wahrscheinlich als ›String-Tangas‹, damit die Einwohner mal was richtig Aufregendes erleben.«
Er antwortet nicht und freut sich stattdessen über seine leicht dahinfedernden Schritte.
Im Ortskern (zur Einordnung: Gemäß der aktuellen Volkszählung hat Lyngby zehn permanente Einwohner, davon waren sechs über 60 Jahre alt und die anderen vier wahrscheinlich zu gebrechlich um zur Volkszählung zu gehen) treffen wir immerhin den zweiten Menschen auf dieser Tour, einen unbescholtenen Handwerker auf dem Weg von einem Auto zu einem Haus. Sein ratloser Gesichtsausdruck, als wir nass und halbnackt in sein Blickfeld geraten, spricht von innerer Zerrissenheit: Soll ich das jetzt grüßen oder lieber davor weglaufen? Er bleibt einfach angewurzelt stehen und macht gar nichts, nicht einmal den Mund zu.

Entscheidung
Wir müssen uns hier entscheiden: Entweder rechts die Teerstraße zum Strand hinunter und dort entlang zurück Richtung Vorupør, oder weiter nach Süden Richtung Lodbjerg. »Diese Entscheidung ist ganz einfach«, meine ich weise. »Rechts herum erwartet uns ein kuscheliges Ferienhaus, eine warme Dusche, Kaffee und ein richtiges Frühstück. Richtung Lodbjerg drohen fünfzehn weitere Kilometer, Kälte, Regenschauer sowie Schmerzen in Leiste und Adduktoren.«
»Sag nicht, du hast gerade keinen Spaß.«
»Warum habe ich das Gefühl, dass ich hier kein gleichberechtigter Diskussionspartner bin?«
»Weil du es nicht bist. Wenn du für uns entscheiden würdest, bekämen wir ja heute noch die Nuckelflasche.«
»Was ist so schlimm an der Nuckelflasche?«
»Marvin, du trauerst immer noch der Nuckelflasche nach? Auf diesem Niveau bist du also stecken geblieben?«
»Mummelmummelmummel«, mummele ich. »Seitdem ging es ja auch ständig bergab.« Dann komme ich wieder zum Thema: »Alles was ich will ist Sicherheit, Komfort, Genuss. Also rechts herum.«
»Netter Versuch. Was du dort bekommst ist Unzufriedenheit, Faulheit, Passivität. Geradeaus geht es zu Wohlsein, Balance, Fitness.«
»Wohlsein? Was hat dieses Zuschandenreiten von Sehnen und Muskeln denn mit Wohlsein zu tun? Wenn überhaupt ist das der Weg zu Schmerz, Intoleranz, Zerstörung!«
»Jetzt mach hier nicht auf Suffragette, die Leiste fühlt sich nicht ganz o.k. an, aber noch geht es doch.«
»Wenn ich dich zur Vernunft bringen will, warum habe ich dann immer das Gefühl, als voltigiere ich auf einem Nashorn?«

Contenance geht flöten
Ehe ich mich versehe, sind wir jenseits von Lyngby City und auf dem Weg nach Lodbjerg. Ich könnte protestieren, aber wen würde das schon interessieren? Und außerdem bricht gerade wieder ein neuer Schauer über uns herein, der ihm Empfindungen beschert, als würde er mit dem Regen gleichzeitig verschmelzen und für ihn unerreichbar sein, so als stülpte sich seine Sinneswelt nach außen und hülle das Wetter ein. In dieser Verfassung ist er vernünftigen Argumenten gegenüber so aufgeschlossen wie Zeus beim Anblick Europas. Momenten wie diesem, in denen er sich komplett lebendig fühlt, gehen selten vernunftbetonte Reflektionen voraus. Deswegen sagt man wohl auch am Leben ›fühlen‹ und nicht am Leben ›schlussfolgern‹.
Der südliche Teil von Lyngby besteht aus vier schwarzen, komplett baugleichen Holzhütten, die mit Thy 1 bis Thy 4 adressiert, aber über eine Strecke von über einem Kilometer Länge verteilt sind. Ich meine, er besteht nur daraus. Ist das vielleicht die hiesige Interpretation von Plattenbausiedlungen? Wo man seinen direkten Nachbarn nur an klaren Tagen sehen kann? Ich meine, man stelle sich hier mal ein Stadteilfest vor. Vier Familien namens Jensen 1 bis Jensen 4 kommen in komplett baugleichen, schwarzen Trachten zusammen und trinken Schwarzbier 1 bis Schwarzbier 4. Ihre Kinder sind baugleich und spielen Vier Gewinnt. Mit schwarzen Holzchips.
Meine Contenance schwindet zusehends.
Vorbei ist der Schauer und die Luft so klar und reingewaschen, dass verschwitzte Funktionsfasern hier tatsächlich deplaziert wirkten. Selbst die Kapillaren unter Herrchens nackter Haut prickeln. Er gleitet hinüber in ein beseeltes Läuferhoch. So mühelos empfindet er seine Schritte, als ritte er mit dem Wind.
Das Gefühl wird abrupt unterbrochen, als er aus dem tiefen Sand des Weges auf eine kniehohe Stufe aus Sandhafer springt. Die Leiste sticht bis in den Adduktor hinunter. Er versucht es zu ignorieren, aber eine Restirritation bleibt.
»Zeit mit dem Laufen aufzuhören«, meine ich. »Und schleunigst zum TÜV zu gehen.«
»Quatsch kein Blech.«
»Ich rede Kolbenfresser. Da braut sich etwas zusammen, das sich gar nicht gut anfühlt. Wir sollten umkehren.«
»Sind das nicht phantastische Farbenspiele dahinten, wo die Sonnenstrahlen durch das Wolkenloch scheinen?«
»Ich bin es ja gewohnt, dass du mich verdrängst. Aber jetzt auch noch Leben und Gesundheit? Wie lange willst du dieses höllische Experiment denn noch fortführen?«
»Bis ich nicht mehr will. Und ich will noch.«
»Eben waren wir noch in der Pubertät, jetzt klingst du schon wie ein Trotzkind.«
»Da ist was dran«, sagt er unerwarteterweise. »Kinder spielen. Sie werfen, laufen, rutschen, schaukeln ohne einen konkreten Anlass, nur um sich auszuprobieren.«
»Der wesentliche Unterschied zu dir ist, dass hier keine Erziehungsberechtigten in der Nähe sind um dir Grenzen aufzuzeigen.«
»Klasse, oder?«, freut er sich. Und ergänzt: »Außerdem probieren sich auch Erwachsene aus. Denk nur an Sport, Fernsehshows, Wettbewerbe und so weiter.«
»Warum bloß?«, frage ich. »Könnte eine Art Balzverhalten sein. Jedenfalls ist es nicht nur Neugier. Sonst würden einige Menschen, dich eingerechnet, dieses sinnlose Spiel nicht wiederholt und bis ins Extrem treiben. Da steckt etwas Anderes hinter dieser fehlgeleiteten Motivation. Aber was?«
Er antwortet nicht und läuft weiter. Weil die Irritation wieder abklingt, macht er sich erst mal keine weiteren Sorgen. Endlos und still ist die Landschaft, als döse sie unter der Wolkendecke, während wir ihr wie eine Laus durch den Dünengraspelz krabbeln. Wir sind die einzigen Lebewesen, die hier Fußspuren im Sand hinterlassen. Sein Raumgefühl löst sich auf und er meint, dass Atem und Wind Eins würden. Ihm ist nicht mehr ganz klar, wo er aufhört und wo die Landschaft anfängt. Als löse er sich in ihr wie Brausepulver. Kurz: Sein kleines bisschen Restverstand gibt langsam den Geist auf. Und ich bekomme langsam Hunger.

Noch nicht geschafft
»Unser Verhalten ist überhaupt nicht sinnfrei«, meldet er sich plötzlich. »Es ist sinnlich.«
»Sinnlich, ja…?«, entgegne ich vorsichtig, während sich seine Hirnzellen offensichtlich gerade vollends in Molekulargrütze verwandeln. »Du meinst, so wie Auspeitschen, Würgen oder, schlimmer noch, stundenlange Telefonkonferenzen mit mehr als zehn Teilnehmern, von denen mindestens zwei in der Abflughalle sitzen?«
»Nein, anders. Aber seit wann stehst du auf Auspeitschen oder Telefonkonferenzen?«
»Jetzt verstehe ich«, umgehe ich seine letzte Frage. »Du bist überhaupt nicht neugierig. Du bist bloß süchtig!«
»Ein bisschen vielleicht. Aber es steckt im Grunde etwas Anderes als das dahinter.«
»Und das hat etwas mit Neugier zu tun?«
»Und mit Entdecken.«
»Entdecken auch noch, ja? Noch was?«
Es dauert etwas, bis er antwortet. Schließlich meint er: »Im Grand Canyon war es die Frage, ob wir es schaffen können. Es gab ein klares Ziel: Den Nordrand. Und nur einen Weg dorthin. Aber hier ist es anders, hier bestimmen wir selbst, wann wir am Ziel sind, wann wir es geschafft haben.«
»Das klingt jetzt irgendwie beunruhigend.«
»Weißt du noch, wie wir früher dachten, wenn wir ein tolles Auto mit viel PS hätten, hätten wir es geschafft?«
»Da warst du noch vernünftig«, sage ich.
»Dann war die These, wenn man einen tollen Körper mit viel PS hätte, hätte man es geschafft.«
»Und?«, frage ich sarkastisch.
»Hm«, macht er. »Aber mit einem tollen Auto hat man es noch eindeutiger nicht geschafft als mit physischer Fitness. Lieber ein fitter Körper als ein dickes Auto.«
Pause.
»Jedenfalls«, meint er dann, »Die Frage bleibt: Was ist da noch? Hinter alle dem, was wir schon kennen? Was kommt dann?«

Der Leuchtturm
Schon mehrmals hat er diese Gegend mit der Weite des Meeres verglichen. Und nun sehen wir etwas, das auf den ersten Blick unwirklich scheint, aber keine Fata Morgana ist: Voraus steht ein Leuchtturm. Inmitten der Dünen. Der Leuchtturm von Lodbjerg.
In diesem Moment wird mir mit voller Wucht klar, dass das hier weitergehen wird bis zum Exzess.
»›Der Weg des Exzesses führt zum Palast der Weisheit. Denn wir werden nie wissen, was genug ist, bis wir wissen, was mehr als genug ist.‹ William Blake«, zitiert Herrchen fröhlich.
»Und ›der Weg des Laufens führt in die Abstellkammer der körperlichen Zerstörung. Denn du wirst nie aufhören, es zu übertreiben, selbst wenn du es längst übertrieben hast.‹ Marvin«, gebe ich zurück. »Du wirst sehen, dass ich Recht habe.«
Natürlich ignoriert er mich. »Ich habe schon mehr als genug«, bohre ich weiter. »Jetzt bin ich weise, du aber nicht.«
»Wir machen weiter, bis ich genug habe. Dann bin ich weiser als du.«
Eigentlich wäre jetzt eine gute Zeit, den Kollegen Blinddarm zu schikanieren. Stattdessen entgegne ich kraftlos: »Du setzt dich hier völlig unnötig unter Druck. Das ist es. Du hast eine Erwartungshaltung an dich selber. Du siehst in dir etwas, das du sein könntest, aber nicht bist. Und diesem Bild rennst du jetzt hinterher.«
»Und wenn das Gegenteil der Fall wäre? Wenn ich einfach nur klarer sehen, etwas über mich herausfinden möchte?«
»Ich…« ich bin tatsächlich sprachlos. Dazu fällt mir einfach nichts mehr ein.
Es dauert noch eine Weile, bis wir den Leuchtturm, dieses i-Tüpfelchen der Verlassenheit erreichen. Aber schließlich laufen wir direkt daran vorbei. Gebaut aus schwedischem Granit steht er da und kegelt, wenn es dunkel ist, sein Licht in die weiten Horizonte. Als wäre er nicht von Menschenhand erschaffen, sondern aus Dünen geboren um verirrte Seelen aus der Einsamkeit des Nordmeeres in die Einsamkeit dieses Landstriches, der vor wenigen Tausend Jahren noch Meeresgrund war, zu locken.
»Er ist schön und gruselig zugleich, oder?« fragt er.
»Da hat er dir etwas voraus. Du bist einfach nur gruselig.«

Zum Strand
Nach Lodbjerg laufen wir noch wenige Kilometer durch die Dünen. Der Weg wird sandiger. Näher und näher kommen wir ans Meer. Und weiter und weiter entfernen wir uns von Vorupør.
Wieder ziehe ich Bilanz. Die Passivseite bläht sich geradezu auf angesichts der Anstrengung, die es kosten wird, den Weg von hier aus wieder zurückzulaufen. Denn zurück soll es nicht durch die Dünen gehen, sondern am Strand entlang durch den tiefen Sand. Und die Aktivseite erodiert durch zunehmende Schmerzen in Leiste und Adduktoren und schrumpfende Kraftreserven. Das kann nicht aufgehen.
Die nächste Ortschaft heißt Agger. Man erreicht sie über einen schmalen, sandigen Damm zwischen der Nordsee und einem Binnengewässer namens Flade Sø. Kurz vor Agger führt ein sandiger Pfad nach rechts an den Strand.
»Viel weiter nach Süden kommen wir nicht«, sagt er. »Da vorne ist Thy zu Ende und der Limfjord fängt an. Jetzt geht es an den Strand und zurück.« Erleichtert wäre ich, wenn ich nicht wüsste, was jetzt noch vor uns liegt: Gut zwanzig Kilometer sind es bis Vorupør zurück. Das kann nichts Anderes sein als eine Tortour durch Sand und Wind.
Wir biegen auf den Pfad ein und erreichen die Anhöhe des letzten Dünenkamms. Die See hat die Dünen hier zu einer sandigen Steilküste ausgewaschen. Ein endloser Strand breitet sich unter uns aus. Halb springend, halb rutschend laufen wir hinunter in Richtung der hoch hereinrollenden Wellen. Hier sehen wir zum ersten Mal Fußspuren. Von einem Fuchs, der sich hier wohl Mangels Igel selbst gute Nacht gesagt hat.
Hier ist keine Menschenseele.
Als hätte Neptun eine Tür aufgestoßen, ist der Wind am Strand noch stärker, lauter, wilder und rauer. Zum Greifen nah sind die Wellen, der Himmel offener und weiter. Gleichzeitig scheint die Luft aufgeladen mit Licht. Dazu passt, dass die Wolkendecke sich öffnet und der Sonne viel Spielraum lässt. »Wäre der Vergleich nicht so unpassend, würde ich sagen, das Licht wechselt zu High Definition und kitzelt den letzten Kontrast, die letzte Farbnuance aus jedem Sandkorn und jedem schäumenden Wassertröpfchen heraus«, meint er.

Sand
Die ersten Meter auf dem Strand heben seine Stimmung. »Füße sind ein bisschen wie Fühler, oder? Unsere direkte Verbindung zum Boden. Auf Asphalt spürten sie gar nichts. Das war, als schaue man ins Teleskop, hat aber vergessen, die Kuppel der Sternenwarte zu öffnen. In der Heide war es besser, zwar ein angelegter Weg, aber natürlicher Untergrund. Und hier, an der Grenze von Land und Wasser ist kein Weg mehr, alles ist naturbelassen.«
»Was willst du mir sagen?«
»Weißt du noch, als wir einmal als Kind im Garten Kriegen gespielt haben? Wir sind barfuss über den Rasen gelaufen. Vor uns war ein Streifen Beet. Mit roten und gelben Tulpen darauf. Wir wussten nicht, ob wir es schaffen würden hinüber zu springen. Unsere nackten Sohlen trommelten im vollen Lauf über das Gras. Dann sind wir gesprungen. In diesem Moment dachten wir, dass wir fliegen können.«
»Du meinst, bevor wir die Tulpen wegrasiert haben?«
»Wir sind nicht in den Tulpen gelandet. Wir haben den Sprung geschafft.«
»Ich habe Hunger«, beende ich sein Gefasel.
»O.k.« Ohne mit dem Laufen innezuhalten, kramt er hinter seinem Kopf in der oberen Außentasche seines Deuter TransAlpins blind nach einem Joghurtriegel. Zwei davon hat er heute Morgen eingepackt. Zuerst stößt er auf sein Mobiltelefon, nimmt es heraus und verstaut es in einer Netztasche am Hüftgurt. »So ist es leichter zu erreichen.«
»Und schneller zur Hand, falls ein Notfall eintritt und wir uns abholen lassen müssen?«
Er antwortet nicht, stöbert weiter und findet einen Riegel, der sich aus unerfindlichen Gründen selbst ausgewickelt hat. Er meint, dass dieser Snack ihn auch nicht weiter bringt als die ominösen Power-Bars, aber immerhin etwas besser schmeckt. Er spült mit einigen Schlucken aus der Trinkblase nach. Auch bei Getränken hat er etwas experimentiert. Der empirische Tiefpunkt dabei war ein Gemisch aus Wasser, Salz, Zucker, Orangensaft und Speisestärke, das schmeckte wie durch Laufsocke gefiltert und die Laufleistung förderte wie Popeln die Libido. Nein, klares Wasser findet er wesentlich belebender. Dann sucht er nach dem zweiten Riegel. Findet ihn. Und gleich darauf noch einen. Beide noch sauber verpackt. Es sind die beiden von heute Morgen.
»Was habe ich eigentlich gerade gegessen?«, murmelt er mit einer für ihn typischen Mischung aus Verwunderung und Unbedarftheit. »Egal.« Er vernascht beide Riegel und wendet sich wichtigeren Fragen zu. Zum Beispiel: »Wozu brauchen die einen Rettungsweg im Landesinneren, wenn man auch am Strand laufen kann?«
Die Antwort findet sich hier im tiefen Sand. Vielleicht hätte er sich mal nach der Tide erkundigen sollen. Das Wasser steht gerade sehr nah an der Steilküste, dazwischen liegt nur ein schmaler Streifen mit tiefem Sand oder Kies. Auf beiden ist das Laufen extrem anstrengend.
»So ein Strand ist keine Tartanbahn«, stellt er naiv fest.
»Ich nehme mal an, wie Fliegen fühlt sich das gerade nicht an… Den Sprung über das Tulpenbeet würdest du hier wohl nicht schaffen«, sage ich.
Seine Laufgeschwindigkeit ist dramatisch gesunken. Gleichzeitig sind die Anforderungen an die Konzentration dramatisch gestiegen: Zwischen Wasser, Sand, Steinen und Treibgut ist jeder Schritt ein russisches Roulette für Gelenke, Muskeln und Sehnen. So gut es geht, versucht er im vermeintlich etwas festeren Sand nah der Wellen zu laufen. Manchmal unterschätzt er die Geschwindigkeit der herannahenden Wellen und muss schnell strandseits ausweichen. Oft reagiert er zu spät und die Welle erreicht seine Laufschuhe. Nach einigen hundert Metern sind sie saftig, salzig und paniert wie eine orthopädische Hommage an das Wiener Schnitzel. Erschwerend kommt der kniehoch ausgewaschene Spülsaum hinzu, den wir auf der Suche nach festem Untergrund häufig hinauf- und wieder hinunterspringen müssen. Dann wiederum ist der vermeintlich feste Sand nah der Wellen manchmal gar nicht so fest und sandiger Schlamm schluckt Fuß, Knöchel und Vortrieb.
»Geht schon ein bisschen auf die Muskeln«, keucht er. »Aber immerhin scheint die Sonne.«
Wo ist da jetzt der Zusammenhang, frage ich mich. Zwar scheint die Sonne gerade freundlich, doch in seinem Inneren herrscht mittlerweile ein deutlich rauerer Ton. Die Kohlenhydrate werden langsam knapp, und der Körper muss die letzten Reserven mobilisieren. Das tut er wie üblich nur runter Protest. Marathonläufer sprechen in dieser Situation von dem ›Mann mit dem Hammer‹. Dieser unwillkommene Handwerker taucht viel zu früh auf, scheinbar fordert die Kraftanstrengung im Sand ihren Tribut.

Unter der Oberfläche
»Hast du mal darüber nachgedacht, wie ich das hier empfinde?«, frage ich ihn.
»Nicht wirklich«, keucht er. »Marvin, wir sind auf dem Weg in eine Zone, die man auf eine andere Art kaum erreichen kann, einen Raum, der uns sonst verschlossen ist.«
»Wenn du ihn erreicht hast, wirst du feststellen, dass er von innen mit Gummi gepolstert ist und sofort wieder hinter dir verschlossen wird.«
»Wir gehen uns selber auf den Grund, tief unter die Oberfläche. Dort unten liegt ein Schatz, Marvin. Im Grand Canyon konnten wir ihn bereits sehen, aber noch nicht deutlich genug.«
»Aber…«
»Da!«, ruft er überrascht, »Sieh mal!« In einiger Entfernung vom Strand sind zwei oder drei Rückenflossen aus dem Wasser aufgetaucht. Schnell sind sie wieder verschwunden um wenige Sekunden später erneut zu erscheinen. Parallel zu uns bewegen sie sich in die gleiche Richtung wie wir – nur schneller. »Das sind Schweinswale!«, ruft er begeistert. »Ist das nicht toll? Man denkt, das ist einfach nur eine blaugraue Wasserfläche da draußen, und dann das!« Er ergänzt, dass ich ja eigentlich eine besondere Nähe zu Tieren mit diesem Namen empfinden müsste, aber das ignoriere ich.
Stattdessen frage ich: »Das ist es also? Du möchtest vom Grunde einer Traumwelt etwas an die Oberfläche holen?«
Er antwortet nicht und starrt fasziniert auf das Wasser, bis dort die Wale wieder auftauchen.
Ich seufze: »Wenn man schon laufen muss, um sich selbst auf den Grund gehen, kann man dabei doch nur auf Grund laufen.«
Nach einigen Minuten sind die Wale verschwunden. Bei ihm haben sie einen kleinen Adrenalinschub ausgelöst, der ihm kurzfristig Auftrieb verschafft.

Der Priel
Er steuert sein Empfinden auf die nackte Haut seines Oberkörpers, den die Sonne wärmt und die salzige, klare Luft kitzelt. Ich wünschte, wenigstens der Deuter-Rucksack würde ihn durch Scheuern irritieren, aber der trägt sich auch nach drei Stunden noch so komfortabel wie eine Maßweste.
Rechts von uns sehen wir den Ausläufer eines Priels, der uns für eine Weile rechts begleitet, so dass wir auf zwei Seiten von Wasser eingeschlossen sind. Die dunkle Ahnung einer Gefahr beschleicht mich, aber ich kann sie nicht konkret fassen.
»Oh«, sagt er da. Und sieht, dass der Priel einen Abfluss ins Meer hat. Genau vor uns. Geschätzte vier Meter breit (zu weit um ihn zu überspringen) und geschätzt knietief (zu tief um komfortabel hindurch zu laufen).
»Durch oder umkehren?«, fragt er.
»Pest oder Cholera?«, röchele ich.
»Pest«, meint er und läuft ohne zu bremsen auf das Wasser zu. »Viel nasser können unsere Schuhe auch nicht mehr werden.«
Es war eine dämliche Idee, wie sich in einer halben Sekunde herausstellt. Das rechte Bein versinkt viel weiter als gedacht – erst im kalten Wasser, dann im nachgiebigen Sand. Das linke stolpert hinterher. Einen kurzen Moment flackert Panik in mir auf: Werden wir haltlos im Treibsand versinken? Irgendwann, aber viel zu spät, finden die Füße Halt. Schnell will er weiter, schnell aus dieser Schlammfalle hinaus. Mit einem Ruck reißt er das rechte Bein nach vorne. Durch die Leiste flammt ein Schmerz. Er beißt die Zähne zusammen. Die Arme rudern um die Balance zu halten. Wieder versinkt das rechte Bein im Boden. Er zieht. Er beißt. Er versinkt. Er zieht. Und krabbelt aus dem Priel heraus. Für einen Sprung reicht es nicht mehr.
»O.k.«, keucht er beim Aufstehen. »O.k.« Die Leiste pocht und irgendetwas stimmt nicht mit der rechten Pobacke.
Das war’s, denke ich und sage: »Das war’s.«
Ohne innezuhalten läuft er weiter und horcht vorsichtig in sich hinein. Dort flehe ich: »Haaallooo! Das waahaar’s! Buhuhuuuu!«
»Der Schmerz klingt schon wieder ab«, keucht er.
»Nein!« Ich gebe zu, ich schreie. »Das sind nur die körpereigenen Morphine, die dich täuschen. Du machst alles nur noch schlimmer!«
»Mal sehen«, sagt er und bildet sich ein, dass das langsame Laufen wohltuend wirkt.
»Wir können nicht mehr!«, rufe ich.
»Aber ich will noch!«, schnauft er.
Und da wird mir klar, dass ich einen folgenschweren Gedankenfehler begangen habe. Wie sagte er noch vorhin? ›Bis wir nicht mehr können. Oder wollen.‹ Und ich dachte, das Nicht-Mehr-Wollen käme vor dem Nicht-Mehr-Können, wie man es von einem normal denkenden und handelnden Schweinepriester erwarten kann. Oder zumindest gleichzeitig. Nun stellt sich heraus, dass für ihn das Nicht-Mehr-Können überhaupt kein Hinderungsgrund ist. Das ist erschreckend.
»Da ist noch mehr drin«, keucht er. »Da kommt noch was.«

Noch nicht am Ende
Die Muskelstränge der Abdruckphase bilden ein biomechanisch äußerst sensibles System vom unteren Rücken über Gesäß und hinterem Oberschenkel bis zur Wade. Dauerreizungen, Überanstrengungen oder Fehlbelastungen können zu empfindlichen Störungen führen. Es gibt in diesem Zusammenhang die unbewiesene Theorie der Triggerpunkte, kleiner, lokaler Verkrampfungen in der Muskulatur, die dem Körper nicht mehr gehorchen und sich nicht mehr um seine reibungslose Funktion scheren. Sind sie erst einmal entstanden, bleiben sie hartnäckig und umgeben sich gerne mit Ihresgleichen. Ganze Muskelstränge können so dauerhaft von Verhärtungen bevölkert werden. Und Schmerzen erzeugen.
Ich glaube, in unseren Muskelsträngen der Abdruckphase rotten sich die Triggerpunkte gerade wie revolutionäre Zellen zusammen. Immer den Finger am Abzug um Schmerzen durch unsere Extremitäten zu schießen. Unglücklich ist nur, dass wir in diesem tiefen Sand sehr auf diese Muskeln angewiesen sind.
Ich frage ihn: »Macht das jetzt Spaß?«
»Spaß ist etwas anderes.«
»Dann hör’ doch auf!«
»Noch nicht, ich bin noch nicht da, wo ich sein will.«
»In Vorupør?«
»Nein, am Ende.«
Diese Antwort wirft tausend Fragen auf, von denen ›Ist sein Gehirn jetzt auch zum Triggerpunkt geworden?‹, ›Wie sehr am Ende ist eigentlich am Ende?‹ und ›Auf welche anderen Spielarten des Masochismus muss ich mich demnächst einstellen?‹ noch die harmloseren sind.
Ich denke mal, er wird schlichtweg irre. Aussehen tut er jedenfalls so: Klatschnass klebt die Hose an den Waden, die Schuhe machen bei jedem Schritt glucksende Geräusche und seine Haare stehen in allen Himmelsrichtungen vom Kopf ab. Am schlimmsten jedoch ist, dass er dazu das Engelslächeln eines Neugeboren trägt.
Rechts von uns ist die Küste weiterhin steil ausgewaschen. Manchmal durchziehen schwarze Flöze den Dünensand. Falls irgendwann einmal Menschen hier waren, so haben sich Meer und Wind längst alle Spuren davon zurückgeholt.

Glücklichsein
Gute zehn Kilometer sind es von Agger bis zum Strand von Lyngby, den man an den halb versunkenen Bunkeranlagen erkennt, die dort die Landschaft verschandeln. Doch wann endlich geraten sie in unser Blickfeld? An diesem Strand gibt es keine Zeichen des Vorwärtskommens. Die Zeit zieht und zieht sich und es scheint, dass wir überhaupt nicht vom Fleck kommen. Feststecken. Die Füße nur im Zeitlupentempo bewegen können wie in einem Albtraum. Das Gefühl des lockeren Dahinschwebens ist schon lange nicht mehr da.
»Etwas ist hier nicht in Ordnung«, sage ich ernst. »Nicht, wie sonst, auf der geistigen Ebene, sondern körperlich. Und das meine ich Ernst.«
Er läuft weiter.
Ich kann nicht mehr. Und fliehe vor der Wirklichkeit in die Erinnerung an den an den Pink Sand Beach auf Harbour Island, Bahamas. Wie seine flache, makellose Fläche aus hellrosa Korallensand unter der Karibiksonne zum Dösen – und nur zum Dösen – einlud. Wo das Wasser genauso klar und warm war wie die Luft. Genau so sollte ein Strand sein. Wo Mutter Natur dir ein Schlaflied singt. Und nicht so wie hier auf Rock-Röhre macht.
»Pink Sand Beach?«, jappst er. »Ganz hübsch. Aber viel zu warm zum Laufen. Und mit der Zeit etwas eintönig.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir dort eintönig vorgekommen wäre. Hier dagegen geht es ganz schnell.«
»Du bist einfach nicht in der Lage den Moment zu genießen.« Er ist augenscheinlich noch in der Lage ein Gespräch zu führen. Wenn auch mit fragwürdigen Inhalten.
»Diesen hier jedenfalls nicht.«
»Aber das ist doch einfach großartig hier.« Was bitte findet er hier großartig? »Jeder Moment ist anders, die Natur ist so launisch – Pink Sand Beach kann nur eine Stimmung ausdrücken, wie ein schlechter Schauspieler. Und wer steht auf der Hitliste der glücklichsten Länder ganz oben? Die Dänen.«
»Ist dir schon mal aufgefallen, wie viele glückliche Dänen gerade hier sind und wie viele gerade zuhause glücklich die Füße hochlegen? Die Bahamas waren in der Hitliste übrigens auf Platz 5, kaum schlechter als Dänemark.«
»Hier geht es nicht um Glücklichsein. Noch nicht. Im Grunde geht es erst mal um Freiheit.«
Neugier, Entdecken, Freiheit, was will er denn noch alles? Langsam reicht’s. »Was soll jetzt dieses Freiheits-Gelaber?«, knurre ich. »Was reitet ihr Schweinehundtyrannen bloß ständig darauf herum? Warum zum Beispiel steht in so vielen Staatsverfassungen immer etwas von Freiheit, aber niemals von Glücklichsein? Ich sage dir warum: Weil ein Staat dich glauben lassen kann, es lohne sich für Freiheit zu sterben. Aber für das Glücklichsein geht das nicht. Da würden die Leute merken, dass an dieser Argumentation irgendwo ein Haken ist. Und du bist genauso. Du fügst uns hier unverhältnismäßig viel Leiden im Namen irgendwelcher abstrakten Selbstverwirklichungsworthülsen zu!«
Er antwortet irgendetwas, aber das ist mir schlichtweg zu blöd. Ich verabschiede mich einfach aus der Konversation und phantasiere ein wenig vor mich hin. Dänen und Bahamians. Glückliche Völker voller glücklicher Menschen. Und sie könnten sich sogar noch kulturell austauschen und voneinander lernen. Dann gibt es fürs Glücklichsein kein Halten mehr! Die Bahamians färben sich die Rastalocken rot-weiß, stopfen statt Pølser Gras in den Hotdog, paffen bis die Wanderdüne sprintet und geben sich Namen wie Smøke Jonesing. Und die Dänen grüssen sich forthin mit »Yø Møn«, stopfen ihre Nørding-Pfeife mit Mary Jane II. aus der køniglichen Døpemanufaktur und paffen sich Grønland pink.

Vernunft?
»Und das Erstaunliche ist, dass wir immer noch laufen können, Marvin«, sagt er. »Irgendwie.«
»Vielleicht geht es nicht nur um das Können und Wollen, sondern auch um das Sollen. Egal ob wir jetzt laufen können oder wollen, wir sollten es einfach nicht tun.«
»Sagt wer?«
»Es gibt so etwas wie Vernunft.« Ich bereue diesen Satz in der Sekunde, wo ich ihn sage. Mit Vernunft kann man ihm jetzt sicher nicht mehr kommen.
»Das stimmt. Und es gibt so etwas wie Nordseewellen, die links von uns donnernd in Strudeln weißer Gischt brechen. Und den salzigen Wind auf unserer Haut und tief, tief in unseren Lungen.«
Sag ich ja, mit Vernunft kann man ihm nicht mehr kommen. Vielleicht mit Troponin? Kardiales Troponin entsteht durch Schädigung des Herzmuskels. Nach langer, viele würden behaupten zu langer Ausdauerbelastung findet man im Blut von Sportlern kardiales Troponin in einer Menge, wie es sonst nur nach einem Herzinfarkt gemessen wird. Einen besseren Beweis für die zerstörerische Kraft seines Tuns gibt es doch gar nicht.
»A propos zerstörerische Kraft: Da vorne sieht man die ersten Bunker.«
In einigen hundert Metern Entfernung zeichnen sich die Silhouetten von Bunkern aus dem zweiten Weltkrieg ab, die dort, am Strand von Lyngby, in Wellen und Sand versinken. Die grauen, garagengroßen Betonquader gehörten einst zum atlantischen Verteidigungswall. In Lyngby war die dritte Batterie des deutschen Heeres-Küstenartillerie-Regiments 180 mit vier Geschützen Kaliber 10,5cm sowie drei Geschützen Kaliber 2,5cm stationiert. Heute ist der Leitstand ›in Betonausführung‹ mangels tragfähigen Untergrundes vornüber gekippt und halb vom Sand der Steilküste begraben. Niemals hat man von hier aus einen feindgerichteter Schuss abgegeben. Die Einwohner haben diese abominablen Bauten nicht vernichtet und überlassen sie ihrem Schicksal des jahrzehntelangen Schiffbruchs.
»Schau sie dir an«, meine ich ernst. »Sie sind ein Symbol für die Sinnlosigkeit fehlgeleiteten Strebens. Sie sind wider die Natur. Morgen wirst du an sie denken, wenn du deine Verletzungen zählst.«

Es knackt nicht, wenn der Willen bricht
Die Nerven unseres rechten Beines sind Violinensaiten, die anstelle eines Rosshaarbogens mit einem Fuchsschwanz bearbeitet werden. Und damit meine ich die Säge.
Für die guten zehn Kilometer von Agger nach Lyngby haben wir über anderthalb Stunden gebraucht, doppelt so lange wie unter normalen Bedingungen. Und dabei war es doppelt so anstrengend. Es ist zermürbend zu wissen, dass es nach Vorupør noch einmal so lange dauern wird.
Es sind nun dreieinhalb Stunden nach unserem Aufbruch. Sein sechster Sinn tastet sich zu Leiste, Adduktoren und Gesäßmuskeln vor. Der Schmerz dort wird nicht weniger. Im Gegenteil. Seine Hand tastet nach dem Telefon an der Hüfte. Zögert. Nimmt den Armschwung wieder auf. Tastet sich erneut vor.
Ich wittere meine Chance. Und tue das Richtige: Ich sage nichts. Drücke nur ein bisschen auf der schmerzenden Pobacke herum.
Er schaut dem umgekippten Bunker-Leitstand in die leeren Schiessscharten. Sie blicken zurück wie die Augenhöhlen eines gescheiterten Betonschädels.
In seinem Kopf rotiert es: Können, Wollen, Wollen, Können, können wollen, wollen können, Koller, Wonnen, Sollen, Schmerz, Vernunft, Schmerz. Schmerz. Warum. Schmerz.
Es knackt nicht, wenn der Willen bricht. Es geht ganz leise. Ein sachtes, gleitendes Rutschen. Dafür unwiderruflich. Ich liebe dieses Geräusch.
Er hört auf zu laufen und marschiert einen strammen Gang im Sand. Dabei holt er das Handy aus der Netztasche des Hüftgurtes und ruft Kirsten an. Sie verabreden sich in einer Dreiviertelstunde am Anleger von Stenbjerg.
Dann läuft er wieder. »Wir hören auf, Marvin. Wir laufen nicht bis Vorupør zurück. Nur bis Stenbjerg. Wir sollten wohl nur bis Stenbjerg laufen.«
Ich schweige. Warum läuft er wieder?

Was kommt noch?
»Eins-zwei«, zählt er. Das Engelslächeln ist verschwunden.
Zählt er seine Schritte oder das Echo eines sachten, gleitenden Rutschens, das laut durch seinen Kopf hallt?
»Beeindruckend, zu welchen arithmetischen Höchstleistungen du noch in der Lage bist«, stichele ich.
»Ich finde es nicht sehr beeindruckend, wozu ich gerade in der Lage bin«, murmelt er.
»Hey«, sage ich freundschaftlich. »Du warst motiviert. Du wolltest irgendeinen diffusen Zustand erreichen, den es sehr wahrscheinlich gar nicht gibt. Jetzt ist diese Flause endlich vorbei. Das ist vollkommen o.k. so.«
»Eins-zwei«, zählt er seine Schritte. Seine Bewegungen werden gleichmäßiger. Er konzentriert sich darauf, wie er im Sand den besten Schwung in der Abdruckphase findet. Seine Schritte werden schneller und flacher. »Wir haben noch eine Dreiviertelstunde.«
»Für was?«, frage ich.
»Um zu sehen, was da noch ist, was noch kommt.«
»Ich habe begründete Zweifel daran, dass es etwas Gutes sein wird.«

***
Weiter geht es in der Druckfassung von ES läuft. Die ist im Buchhandel erhältlich - oder bei mir.

7 Kommentare:

  1. "Es knackt nicht, wenn der Willen bricht. Es geht ganz leise" .... genial!

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  2. Toller Bericht, ich hoffe, ihr habt euch schnell wieder erholt und die restliche Zeit in Nørre genossen.Dort fährt man hin um sich zu erholen und sich nicht umzubringen ;)
    Grüße von einer Nørresüchtigen....nichtLäuferin =)

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  3. @ Mela:
    Quote:'Dort fährt man hin um sich zu erholen und sich nicht umzubringen'

    Ja! Ja! Ja! Blöd nur, dass Herrchen glaubt, diese Borderline-Experimente hätten auch eine gewisse Erneuerungswirkung. Seufz.

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  4. @ Tillmann. Der vom Müritzlauf, der ganz ohne Eiweiß auskommt, quasi ?

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  5. Nee, ohne Eiweiß is' nicht. Wer macht denn so was?

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  6. ich war die letzten zwei Jahre dort, letzten Sommer war es so heiß, das ich beim Laufen fast im Straßengraben bei den Kühen gelandet bin , hihi

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  7. Hey, dann sind wir uns vielleicht begegnet. Entweder auf der Bøgsted Rende Tour oder eben nach Süden Richtung Agger.

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