Montag

Sport und Alkohol: Verheerende Folgen


Dieser Post ist ein Destillat aus
"SPORT: Sei kein Frosch, Schweinehund"
Achtung: Der folgende Text beschreibt unverantwortliche und amüsante exzessverherrlichende Handlungen, die ausdrücklich nicht zur Nachahmung empfohlen werden. Auch wenn’s Spaß macht.


Unser Freund Jobst hat zur Männerolympiade geladen. Das Wetter ist uns hold, ein phantastischer Spätsommernachmittag erwartet uns an diesem Samstag. Die 25 Kilometer von uns bis zu Jobst sind wir gelaufen. Erstens, weil es eine sehr schöne Strecke durch blühende Heide ist und zweitens, weil das Auto keine Alternative wäre: Auf dem Rückweg werden wir voraussichtlich so fahrtüchtig sein wie ein japanischer Austauschmönch, der gerade im Kloster Andechs die Doppelbock-Taufe empfangen hat.

Ich kann mich also auf ein Event ganz nach meinem Geschmack freuen. Wenn nur dieser sportliche Aspekt nicht wäre.

Wir sind pünktlich. Es ist genau drei Uhr nachmittags, als wir zwischen Kiefern die 160 Meter lange Auffahrt zu Jobsts Heideanwesen hinauflaufen. Das liegt oben auf einem Heidehügel. Auf 6.000 Quadratmetern Traumgrundstück in uneinsichtiger Traumlage mit Bäumen, Heide und viel Wiese – Badmintonfeld und Tischtennisplatte sind für das Event schon aufgebaut – thront dort sein selbst entworfenes Haus. Und eine selbst gebaute Maschine zum Weitkatapultieren von Schaumküssen, die er extra für den heutigen Tag konstruiert hat.

Gäste werden bei Jobst und seiner Frau Clara häufig von Ollie, dem schwarzen Zwergpudel begrüßt. Der wedelt dabei heftig mit dem Schwanz, ja, eigentlich sogar mit der ganzen Rückseite. Leider hat Freudentaumel bei Ollie eine unerwünschte Nebenwirkung: Er pullert unkontrolliert und ohne Vorwarnung los.

Schon als Ollie noch ein Welpe war, hat er Herrchen auf seine spezielle Art willkommen geheißen. Und seitdem versucht Jobst, seinen innig geliebten Pudel trocken zu legen. Bisher erfolglos. Letzten Winter hatte Ollie seinen zehnten Geburtstag. Aber Jobst gibt nicht auf und geht weiter durch alle Instanzen zum Teil äußerst erfinderischer Methoden. Kein Wunder: Er ist Anwalt für Patentrecht.

Weil Ollie bei uns gerade nicht auf Pampers-Pudel macht, schließen wir, dass seine Blase schon leer sein muss, und dass wir damit wohl die letzten der Ankömmlinge sind.

Oben winkt Clara, Jobsts Frau, uns fröhlich zu. Ob wir etwa hergelaufen seien, fragt sie. Gerade schnallt sie ihre beiden kleinen Söhne in ihrer Familienkutsche, einem himmelblauen Mercedes SL Cabriolet aus ihrem Geburtsjahr, 1974, fest. Jobst und Clara, das ist so eine Bilderbuchromanze. Clara ist die einzige Frau in Jobsts ganzem, bewegtem und über sechzigjährigem Leben. Jedenfalls die Einzige, mit der er zwei seiner vielen Kinder auf einmal hat. Clara, knapp dreißig Jahre jünger als Jobst, winkt uns noch einmal zu und fährt dann mit den beiden Kleinen weg.

»Damit wären wir unter uns!«, strahlt Jobst und begrüßt Herrchen, verschwitzt wie der ist, mit einer bärigen Umarmung, die Herrchen mit einem affigen Grinsen quittiert.

Die vier weiteren Teilnehmer an der Männerolympiade sitzen tatsächlich schon alle am Terrassentisch. Sie kommen aus Jobsts Bekanntenkreis; Herrchen sieht sie heute zum ersten Mal. Jobst hat ihn vorher gebrieft: Sylvan produziere Shows fürs Fernsehen. Von ihm hat Herrchen schon einmal gehört. Klaus leite eine Werbeagentur, die Herrchen zumindest namentlich bekannt ist. Carl wäre Redakteur eines populären Wochenmagazins und Tjalf, tja, das hätte Jobst bis heute nicht genau verstanden.

Der Reihe nach schüttelt Herrchen Hände und versucht, Namen mit wesentlichen Persönlichkeitsmerkmalen zu verknüpfen.

Sylvan, der Showproduzent: Distinguiert wie ein britischer Landarzt. Augen mit direktem Draht zum limbischen System.

Klaus, der Werbemann: Könnte Bürgermeister der lebenswertesten Kleinstadt Nordeuropas sein. Verschmitzte Fältchen um Augen und Mundwinkel.

Carl, der Journalist: Schlaksig, lässig-lipophile Haarmatte in blonden Wellen. Entwaffnendes Grinsen.

Tjalf: Wow, Gesicht und Körperbau wie ein Davidoff-Model. Für Duft, nicht für Zigarren.

Keinen seiner Gäste hat Jobst im Vorwege daran zweifeln lassen, dass heute neben der leiblichen Ertüchtigung ebenfalls das ›Spirituelle‹ anständig – und gerne auch weniger anständig – gewürdigt werden sollte.

An der kürzeren Hauswand seiner L-förmig eingefassten Terrasse mit der sonnengelben Markise thront ein mächtiger Side-by-Side Kühlschrank. »Alle da. Dann können wir ja«, meint Jobst. Wie beiläufig lässt er die Flügeltüren seines Side-by-Side aufschwingen.

Mir fällt auf, wie insbesondere Tjalf befriedigt mit den Augen leucht, als er die vielen Flaschen im Schein der Kühlschrank-Innenbeleuchtung glitzern sieht.

»Im Wasser stehend, klagen wir über Durst«, grinst Werbe-Klaus.

»Oh, ein Koan«, freut sich Journalisten-Carl.

»Ein was?«, fragt Jobst.

»Na, einer dieser Zen-Sprüche. Ein Paradoxon, das man mit logischem Denken nicht verstehen kann.«

Sylvan pfeift gespielt-beeindruckt. »So wie die Ehe.«

»Nich’ lang schnacken…« Jedem drückt Jobst für den Anfang eine Halbe in die Hand. Herrchen hat nach dem Laufen Durst. Während er noch trinkt, richtet Jobst die erste Runde Jägermeister in gefrosteten Gläsern an.

Könnte ein Fehler gewesen sein, dass wir vor dem Laufen auf das Mittagessen verzichtet haben.

Neben dem verchromten Kühlschrank leuchtet eine original Wurlitzer Jukebox ›1015 Bubbler‹ in sehr bunten Farben. Gerade spielt sie Claptons ›Cocaine‹.

Bis jetzt fühle ich mich ganz gut.

Herrchen meint, er würde sich gerne noch schnell duschen und umziehen. Wechselklamotten und -schuhe haben wir im Deuter Transalpine mitgenommen.

Jobst zuckt die Schultern. »Ist das wirklich nötig? Na gut. Aber erst mal einen Jägermeister!« Dagegen wendet niemand etwas ein und er erhebt sein Glas. Alle prosten sich fröhlich zu.

Analog zu einem bekannten Power Gel für Läufer geht der Kräuterschnaps nachhaltig verfügbar und mit gestaffelter Energiefreisetzung ins Blut, fördert die mentale Stimulation und steigert gegenüber der reinen Flüssigkeitsaufnahme die Leistungsfähigkeit zumindest gefühlt um 24%.

Herrchen duscht so schnell es eben geht. Danach lässt er sich mit nassen Haaren auf einen Stuhl am Terrassentisch plumpsen und beginnt mit Carl, dem Redakteur, ein Gespräch über das Laufen. Carl erzählt, er wäre früher mal die 5.000 Meter in 14:etwas gelaufen. Daraufhin wechselt Herrchen schnell das Thema und fragt Carl, wie er denn mit seinem i-Phone zufrieden wäre.

Im Gespräch zünden Carl und Tjalf sich jeder eine American Spirit an. Der Raucheranteil hier ist hoch, nur Jobst und Herrchen verzichten.

Klaus, der Werber, erklärt uns den Ablauf. Wir werden uns in insgesamt neun Disziplinen messen. Angetreten wird in drei Teams von je zwei Leuten. Die Zweierteams werden im Anschluss ausgelost.

Man hört ihm gerne zu und er hat ohne Frage Organisationstalent.

Das beweist auch ein Zettel auf einem Klemmbrett, den er für diesen Anlass ausgedruckt hat. Darauf stehen fein säuberlich Kästchen für Mannschaften, Namensfelder, alle Disziplinen sowie eine Punktetabelle nebst einem Ring Jägermeister, wo Tjalf unvorsichtigerweise sein Shot-Glas abgestellt hat. Diese papierbasierte Männerolympiaden-App wird uns durch die Disziplinen führen. Das ist weitsichtig, denn es könnte ja der Fall eintreten, dass wir später dazu vielleicht nicht mehr selbst in der Lage sein werden.

Einhellig verständigt man sich darauf, zunächst die Schusswertungen mit Bogen und Luftgewehr zu absolvieren, weil die Unfallgefahr voraussichtlich mit zunehmendem Wettkampffortschritt steigen werde.

Unglaublich, Werbe-Klaus hat sogar sechs Streichhölzer in drei verschiedenen Längen vorbereitet. Die ziehen wir jetzt, um die Teams zu ermitteln. Kurz darauf steht fest: Show-Sylvan tritt an mit Tjalf, Klaus mit Journalisten-Carl und Jobst und Herrchen haben den Kürzesten gezogen.

Bevor wir zur Tat schreiten, macht Jobst noch eine Ansage: »Pinkeln bitte nur draußen irgendwo in den Büschen. Nicht im Haus.« Diese my-bush-is-my-Sanitärkabine-Regel finden alle Beteiligten völlig plausibel und nachvollziehbar. Alles nickt, auch Ollie wedelt mit dem Schwanz.

Also greift Jobst sich das Futteral mit Sportbogen und Pfeilen und führt uns zur ersten Wettkampfdisziplin, dem Bogenschießen.

Wir müssen das erste Drittel der Einfahrt hinunter laufen. Rechter Hand führt ein kurzer Stichweg in den bewaldeten Hang hinein. An dessen Ende hat Jobst eine Bogensport-Zielscheibe auf einem niedrigen Holzstativ aufgestellt. Hinter der Scheibe sichern Sandsäcke gegen Fehlschüsse ab. Weil hinter den Säcken das Erdreich eines Hanges auch grobe ballistische Eskapaden entschärfen würde, ist diese Stelle ganz clever gewählt.

Den kurzen Fußweg nutzt man, sich gegenseitig bekannt zu machen. Herrchen geht zusammen mit Carl, Sylvan und Tjalf.

Tjalf meint, er würde ab und zu modeln und mache darüber hinaus »etwas mit Privatkunden.«

»Was?«, fragt Herrchen.

»Mit Privatkunden.«

Etwas an seinem Tonfall hält Herrchen davon ab, hier weiter nachzubohren.

Reporter-Carl und Etwas-Mit-Privatkunden-Tjalf haben zuletzt als Kind mit Flitzebogen geschossen. Herrchen zumindest hat vor Jahren einmal einen Schupperkurs im Eisstockschießen belegt. Schusswaffen aller Art sind ihm sonst eher suspekt.

Sylvan zumindest wäre ein guter Schütze mit dem Luftgewehr, meint Carl. Für die nächste Disziplin hätte er extra sein bestes Stück mitgebracht. Also sein bestes Luftgewehr, hahaha. Dazu klopft er Sylvan auf die Schulter, der lächelt dazu salbungsvoll.

Jobst baut den Sportbogen zusammen. Ober- und Unterteil ans Griffstück schrauben, Sehne spannen… Scheint gar nicht so leicht zu sein, alle Teile (ohne Gebrauchsanweisung natürlich) korrekt ineinander zu fügen.

Zum Glück bekommt er von der versammelten Gruppe der Bogensport-Debütanten wohlgemeinten Rat.

»Das muss das Oberteil sein.«

»Aber es sieht genauso aus wie das Unterteil. Die sind beide gleich.«

»Sag ich doch, dann ist es das Oberteil.«

Und so weiter.

Die größte Herausforderung: Sehne spannen. So wie Klaus, Tjalf und Herrchen die Köpfe zwischen die Schultern ziehen, setzt diese Aktion nicht nur den Bogen unter Spannung. Doch mit den vereinten Kräften von Carl, Sylvan und Jobst gelingt es schließlich.

»Es lohnt wohl nicht, einen Bogen zur Abwehr von Einbrechern im Haus zu haben. Bis der schussfertig ist, ist die Bude ausgeräumt«, meine ich.

»Und vielleicht noch der ein oder andere Mietnomade eingezogen«, nickt Herrchen.

»So!« Stolz hält Jobst das fertig montierte Sportgerät in die Höhe und führt uns in die Kunst des Bogenschießens ein. »Pfeil hier…«, er klickt die Nut hinten am Pfeil auf die Sehne, »…zwischen diese beiden Metallringe an der Sehne…«, er greift mit der linken Hand das Griffstück und mit der rechten Hand die Sehne, »…Pfeil hier auf die Pfeilauflage…«, mit dem linken Zeigefinger schiebt er den Pfeil auf einen filigranen Plastikwurmfortsatz am Griffstück, »…ausziehen und…«

»Clinc.« Der Pfeil gleitet von der Pfeilauflage.

Herrchen stellt sich vorsichtshalber ein wenig weiter hinter Carl.

»Jobst.« Das war Sylvan. »Der Pfeil scheint mir nicht ganz gerade.«

Jetzt, wo Sylvan das sagt: Herrchen findet auch, der Pfeil sei nicht ganz gerade. Waage- und fachgerecht betrachtet ist die Nut viel zu weit unter der Pfeilspitze.

»Kann es sein, dass wir oberes und unteres Ende der Sehne vertauscht haben?« Wow, Sylvan hat Sozialkompetenz. Er sagt ›wir‹ statt ›du‹.«

»Kann gar nicht sein«, antwortet Jobst. »Die Markierungen für die Nut sind doch bestimmt in der Mitte der Sehne.«

Sylvan hebt nur beide Hände in Hüfthöhe und sagt: »Schon gut, mach nur.« Danach nähert er sich verdächtig einer robust aussehenden Kiefer.

»Bogensport«, erklärt mir Herrchen, »das steht für absolute Konzentration, für eine ruhige Hand…«

Währenddessen erklärt Jobst das Schießen: »Den Griff kaum festhalten, die Hand bleibt fast offen.« Jobst zieht aus.

»…für Schärfung des Bewusstseins bis hin zu den höchsten Weihen des Zen-Buddhismus…«, erklärt Herrchen weiter.

Jobsts Bewusstsein wirkt gerade nicht sehr geschärft: Er muss den Bogen ziemlich weit nach vorn neigen, damit der schiefe Pfeil auf die Scheibe zeigt. Das geht etwas zulasten der sportlichen Körperhaltung und erinnert an einen Schimpansen, der eine Salatgurke würgt.

Während Jobst noch wackelt, sagt Herrchen laut: »Beim Zen-Bogenschießen geht es nicht um das Treffen. Sondern darum, dass der Pfeil mit dem Ziel zu einer Einheit verschmilzt.«

Klaus schmunzelt: »Ist das ein Zitat aus ›Zen und die Kunst, einen verschossenen Pfeil wiederzufinden‹?« Schön. Klaus schießt sich pointenmäßig schon mal warm. Gefällt mir.

»Das Loslassen ist entscheidend«, meint Jobst und lässt los.

Das obere Ende des Bogens ruckt unerwartet heftig in Richtung seines Kopfes, der reflexartig zurückzuckt.

Alle ziehen die Luft ein und halten den Atem an.

»Klack!« macht es voraus, weit über unseren Köpfen. Sofort danach »Klirr« etwas weiter rechts. Dort, wo das Haus steht, das wir momentan nicht sehen können.

Der Wurlitzer spielt ›Gimme Back My Bullets‹ von Lynyrd Skynyrd.

Eine Alarmanlage geht nicht an.

Der erste, der etwas sagt, ist Klaus: »Dass wir mit Vorbande spielen müssen, war mir neu.«

Der erste, der lacht, ist Jobst. Dass er dabei klingt wie ein Seehund nach einem besonders gelungenen Balanceakt, ist ansteckend. Bald müssen wir uns alle vor Lachen an den Bäumen festhalten; zum Glück sind wir hier geschützt vor den Blicken der Nachbarschaft: die würden sonst denken, wir schlecken hier die Fliegenpilze ab.

Schließlich meint Jobst nonchalant: »Wir haben ja noch Ersatzpfeile.«

Er legt den neuen Pfeil ein, diesmal klickt er die Pfeilnut deutlich über den zwei Ringen an die Sehne. »Sylvan, du hattest Recht. So geht es besser. Also, jetzt gilt’s: Jeder einen Probeschuss, die fünf nächsten Schüsse zählen.« Vielleicht war es Herrchens Zen-Anspielung eben, die Jobst beim Ausziehen des Bogens zu dem Spruch verleitet: »Wir sind es gewöhnt, ein Ziel im Blick zu haben, das vor uns liegt. Doch lasst uns dabei nicht das Hier und Jetzt vergessen.«

Was er damit meint, ist nicht ganz eindeutig, immerhin treffen seine nächsten Schüsse eindeutig besser als sein erster Querschläger. Gut, denn er und Herrchen sind ja ein Team.

»Wo ist eigentlich der erste Pfeil hinverschmolzen?«, möchte ich wissen.

»Hab’ ich mich auch schon gefragt«, meint Herrchen. »Aber das scheint hier ja keinen weiter zu kümmern.«

Nachdem Jobst seine Punkte zusammengezählt hat, ist Tjalf an der Reihe. Mit dem Bogen in der Hand, seinem griechischen Profil und seinem Statuenkörper sieht er aus wie Hermes, der Götterbote. Leider schießt er wie Klaus, der Staplerfahrer. Auch sein Sinnspruch: »Was du liebst, lass los. Kehrt es zu dir zurück, gehört es dir« hilft ihm nicht weiter.

Wir haben es ganz schön schwer, seine im ganzen Wald verteilten Pfeile wieder zu ihm zurück zu bringen. Aber das Team schlägt sich wacker. Alle helfen mit und strengen sich an.

»Eine sonnige Atmosphäre von Freundlichkeit, Respekt und Fairness ist das«, meint Herrchen zu mir. »Wie selbstverständlich. Auch die Punkte werden zuverlässig gezählt, Schummeln käme keinem in den Sinn. Ich glaube, das hat einen Sinn.«

»Na, welchen denn?«, frage ich.

»Vertrauen ist die Grundlage dafür, sich gehen zu lassen.«

»Ist das jetzt wieder ein Koan?«

Herrchen antwortet nicht und schaut lieber Show-Sylvan, dem Luftgewehrbesitzer zu. Trotz sichtbaren Anfängertums geht er mit größtem Selbstvertrauen zuwerke.

Er sagt: »Ein gerader Weg führt immer nur ans Ziel«, zieht aus, schießt und landet einen Volltreffer. Und das war erst der Probeschuss. Am Ende stellt Sylvan mit Abstand einen neuen Punkterekord auf. Leider relativiert Tjalfs Performance das Teamergebnis etwas, doch Sylvan nimmt’s gelassen.

Carl schlägt erst in Sylvans Kerbe (»Der Weg ist das Ziel. Der Abweg Absicht.«) und sich dann wacker.

Werbe-Klaus erlegt mit seinem Probeschuss (»Solange sie andauern, sind Träume real«) einen unschuldigen Blaubeerbusch und stellt den Olympiadenteilnehmern in Folge noch weitere kniffelige Suchaufgaben.

Dann ist Herrchen dran. Er sagt das, was ihm gerade durch den Kopf geht: »Die höchste Kunst ist es, dem Augenblick die Chance zur Perfektion zu geben.«

Dann mal los: Er zieht schnell aus. Fixiert die Sehne vor den konzentriert aufeinander gelegten Lippen. Der Arm ist gestreckt. Die Pose ruhig.

»Sieht gut aus«, meint Sylvan.

Das ist aber auch schon alles. Denn Herrchen weiß nicht weiter. Der Bogen hat kein Visier.

»Und womit soll ich jetzt was anvisieren?«, fragt Herrchen.

»Du musst mit Muskelgedächtnis arbeiten«, meint Sylvan.

Herrchen versucht, diesen Rat in die Tat umzusetzen. Ich bin nicht sicher, an was sich sein Muskelgedächtnis dabei erinnert, tippe aber auf die letzte Kinderdisco.

Dank Tjalf erzielt er immerhin nicht das schlechteste Ergebnis.

Als alle Punkte gezählt und auch Herrchens Pfeile gefunden sind, kehren wir auf die Terrasse zurück, um den nächsten Programmpunkt in Angriff zu nehmen: Halbe und Jägermeister.

Oben erwarten uns ein heiler Wurlitzer (und ›Mas Tequila‹ von Sammy Hagar), ein verschossener Pfeil und eine angeschossene Flasche Absolut Wodka mit Sprung.

»Glück gehabt«, freut sich Jobst. »Nur ein kleiner Splitter ist herausgeplatzt. Aber der Wodka muss jetzt wohl weg.«

Ich habe das Gefühl, sein ›Glück gehabt‹ beziehe sich eher auf den zweiten Nachsatz.

Jobst stellt sechs Pappbecher auf den Tisch, greift vorsichtig nach der ›angebrochenen‹ 0,75-Liter-Flasche, aus der bereits das erste Drittel ausgelaufen ist, und schafft es, den Rest zu gleichen Teilen in die Becher zu retten.

Herrchen meint bang: »Ich sollte das nicht tun. Wirklich.«

»Doch, das solltest du!«, bedränge ich ihn. »Alle machen mit, da kannst du dich jetzt nicht ausnehmen!« Gruppenzwang ist eine tolle Sache finde ich, und mittlerweile meine einzige Möglichkeit, ihn zur Vernunft zu bringen.

Jobst drückt jedem einen Pappbecher in die Hand. Sein Plädoyer fällt kurz aus: »Cheers, Männer!«

»Alles andere als auf ex wäre jetzt total mädchenhaft!«, warne ich.

Mit Erfolg. Hinterher wischt sich Herrchen über die Lippen und flüstert mir zu etwas beunruhigt zu: »Jetzt riechen wir wie bei Bukowskies unter der Isomatte.«

»Ja!«, meine ich zufrieden.

»Und etwas bang ist mir, was gleich passieren wird. Wenn der Wodka anfängt zu wirken, meine ich.« Verstohlen sucht er mit der Zunge nach möglichen Glassplittern in der Mundhöhle, aber da ist nichts, was vorher nicht auch schon da war.

»Wie heißt es so schön im Zen-Buddhismus: ›Man habe Mut zu gehen, ohne zu wissen wohin‹.«

In diesem Sinne heißt es nun: Gewehr-Scharfschützen an die Front.

Für das Luftgewehrschießen stellt Sylvan die Ausrüstung. Noch am Terrassentisch sitzend, reißt er als erstes die Schutzfolie von einem dicken Stapel quadratischer Kärtchen. Auf die gar nicht mal besonders großen Pappen sind Zielscheiben aufgedruckt. Dann kippt er die Öffnung einer Art grünen Blechkrugs in seine Richtung.

»Ah!«, ruft er erschrocken. Damit, dass Flüssigkeit in dem Ding war, die sich nun über Tisch und seine offene Zigarillo-Schachtel in seinen Schoß ergießt, hat er offensichtlich nicht gerechnet. »Wer hat denn hier Bier reingekippt?«, fragt er und sieht in die Runde.

Klaus sieht ratlos aus.

Carl zuckt die Schultern.

Herrchen schaut unbedarft wie immer.

Tjalf meint: »Das war schon drin, glaube ich.«

Herrchen fällt auf, dass Jobst etwas bleich um die Nase wird.

»Das ist kein Becher«, erklärt Sylvan. »Das ist ein Kugelfang. Hier vorne steckt man die Zielscheiben hinein und dieses Blechding fängt die Munition auf.«

»Ich geh’ schnell Küchentuch holen«, ruft Jobst und winkt Herrchen. »Hilfst du mir grad?«

Warum er dabei Hilfe braucht, ist nicht ganz klar, aber Herrchen folgt ihm ins Haus in die Küche.

»O.k.«, sagt Jobst außer Hörweite der anderen. »Hier ist die Ausgangssituation: Dieser Blechnapf stand vorhin noch auf dem Boden vor der Hauswand. Und Paul…«

Paul ist Jobsts zweiter Sohn mit Clara. Ein süßer Bengel von drei Jahren. Gerade trocken. Und frech kann der sein…

»…Paul hat reingepullert. Der macht ja dauernd solche Sachen.«

Herrchen erinnert sich, wie Paul einst unter dem Radar aller versammelten Sommerfestgäste seine nasse Unterhose auf den Holzkohlegrill gelegt hatte, und es immerhin schaffte, sie mehrmals zwischen den Würstchen zu wenden, bevor Clara den Braten gerochen hat. Und nickt langsam.

»Zum Glück hat keiner von den anderen es gesehen!«, fährt Jobst fort. »Dann wollte ich dieses verdammte Ding ausschütten, aber Clara brauchte gerade Hilfe mit den Kindern im Auto, und da habe ich es erst mal auf den Tisch gestellt…«

»Börks«, macht Herrchen.

»Und dann vergessen. Jetzt das Dilemma: Sagen wir es Sylvan oder nicht?«

Herrchen nickt wieder langsam.

»Meine ich ja auch.« Jobst atmet tief ein. Und geht voran auf die Terrasse. »Hier.« Er reicht Sylvan die Rolle Küchenpapier.

»Hey!«, grinst der und hält einen gelblich qualmenden Zigarillo in die Höhe. »Es gibt welche, die werden in Scotch getränkt. Aber Bier ist auch nicht schlecht.« Er nimmt sich reichlich Küchentuch und tupft lachend und paffend auf sich und dem Tisch herum.

Jobst meint: »Lass mich das doch machen.«

»I wo.«

»Schmeckte eh’ abgestanden«, sagt da Tjalf. »Schon ziemlich warm.«

Herrchen, der gerade seine Bierflasche angesetzt hat, fängt unkontrolliert an zu husten.

Der nächste Moment zieht sich in die Länge wie Heidi Klums Getue vor dem nächsten Top-Model-Kandidatinnen-Rauswurf.

Dann kommt Jobst mit der Sprache heraus: »Äh, Leute: das war kein Bier. Das war frisch gezapftes Paul-Pipi. Sorry. Is’ so. Mein Fehler.«

Der nächste Moment hat etwas von nuklearem elektromagnetischem Puls. Bevor die Atombombe explodiert.




***
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4 Kommentare:

  1. Ich bin irritiert, ein wenig amüsiert und noch (!) nicht überzeugt. Also? :-)

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  2. Fängt gut an, geht vielversprechend weiter und endet leider viel zu früh.
    :-(
    Also klarer Fall: Fortsetzen!!!
    :-)

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  3. Andi: Na denn.
    Evchen: Im weiteren Verlauf werden sich voraussichtlich alle drei Eindrücke verstärken... Sag' Bescheid, bevor die Irritation zu stark wird.

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  4. Auf die Winterolympiade bin ich sehr gespannt :-)
    Stephanie

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